Süddeutsche Zeitung

Sterbehilfe:Die Politik stellt Kranke vor eine unmenschliche Wahl

Die Sterbehilfe ist in Deutschland nicht länger die Sache dubioser Todesmakler. Doch der Bundestag lässt die Frage offen, wer unheilbar Kranken stattdessen ihren Sterbewunsch erfüllt.

Ein Kommentar von Kim Björn Becker

Der Zustand einer Gesellschaft kann daran abgelesen werden, wie sie ihre Mitglieder sterben lässt. In einer Zeit, in der vieles auf dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung beruht, zeigt der Umgang mit den Schwachen, wie es um das kollektive Mitgefühl bestellt ist. Am Ende einer Woche, in der viel über das Sterben hierzulande gesprochen worden ist, wird klar, dass die Gesellschaft tief in der Schuld der Alten und Kranken steht. Was ihnen am Lebensende bisweilen zugemutet wird, ist eine Schande. Aus dem Sterbeprozess ist vielfach ein Entsorgungsprozess geworden.

Im Leben der Menschen war der Tod immer allgegenwärtig. Platon sah das ganze Leben als eine fortwährende Vorbereitung auf das Sterben; im Barock prägte das Motiv der Vergänglichkeit Literatur und bildende Kunst. Seit dem 20. Jahrhundert gibt es die Demoskopie - und so liegen inzwischen recht präzise Erkenntnisse darüber vor, wie die Menschen einmal sterben wollen.

Die große Mehrheit in Deutschland wünscht sich, beim Sterben zu Hause zu sein, in Begleitung anderer und möglichst ohne Schmerzen. In einem Land, das so wohlhabend und sicher ist wie die Bundesrepublik, sind das ziemlich bescheidene Wünsche. In Erfüllung gehen sie, zumindest was den Ort betrifft, aber gerade einmal für jeden Fünften.

Natürlich, Familien halten heute seltener zusammen, der Trend zur Individualisierung erfasst auch den Tod. Vor diesem Hintergrund ist es die Aufgabe der Gemeinschaft, einen würdigen Sterbeprozess auch für jene zu ermöglichen, die allein sind. Seit dem Mittelalter gibt es hierzulande die christlich geprägte Tradition, Sterbende nicht allein zu lassen. Doch die Caritas, das Gebot der Nächstenliebe, wird mit zunehmender Ökonomisierung von Medizin und Pflege in immer größerem Umfang aufgekündigt.

Der Bundestag hat am Donnerstag beschlossen, 200 Millionen Euro zusätzlich für die Palliativmedizin auszugeben, damit Sterbenskranke besser versorgt werden können - auch zu Hause, von ambulanten Hilfsdiensten. Gemessen an anderen Gesundheitsausgaben ist das nicht überwältigend viel, doch es ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Nimmt man dann aber die Zustände in vielen Pflegeheimen und Krankenhausstationen in den Blick - dort sterben jedes Jahr mit Abstand die meisten Menschen -, so müsste sich eigentlich eine allgemeine Empörung einstellen darüber, welche Art des Sterbens in diesem Land Tag für Tag zugelassen wird. Es mangelt, dies vorweg, den dort Arbeitenden gewiss nicht pauschal an Mitgefühl, viele Pflegerinnen leisten jeden Tag Großartiges. Doch in personell völlig unterbesetzten Heimen und Kliniken kann der Tod von Menschen oft nicht begleitet, sondern bloß verwaltet werden.

Einmal, so berichtet es eine Pflegerin, fehlte dem verbliebenen Personal gar die Zeit, einer verstorbenen Heimbewohnerin die Kanülen zu entfernen, über die sie bis kurz vor ihrem Tod noch Medikamente erhalten hatte. Als der Bestatter kam und sie abholte, steckten die Nadeln noch in der Haut.

Der Publizist Fritz J. Raddatz skizzierte den Deutschen auf eine rückblickend eindrucksvolle und zugleich beklemmende Weise, wie Schwerstkranke am Lebensende noch über einen Rest an Selbstbestimmung verfügen können. Vor knapp zwei Jahren hielt er den Gegnern der Sterbehilfe, hier verstanden im Sinne eines ärztlich assistierten Suizids, in einem Essay "Infamie" vor. Raddatz verbat sich jede Einmischung und verwahrte sich dagegen, dass "irgendjemand, dem ich mein Leben schließlich nicht verdanke, mir diese letzte Würde nimmt". Zu Beginn dieses Jahres beendete er, vermutlich ebenfalls unheilbar krank, sein Leben in der Schweiz. Er wurde beim Suizid ärztlich begleitet, und man hat ihm die entsprechenden Medikamente bereitgestellt.

In diesem Jahr beschäftigte das Thema dann die Bundespolitik, die Sterbehilfe sollte aus der rechtlichen Grauzone kommen. Abgeordnete legten im Verlauf des Sommers vier Gesetzentwürfe vor, sie reichten von einem kompletten Verbot des assistierten Suizids bis hin zu dem Versuch, hilfsbereiten Ärzten mehr Rechtssicherheit zu geben.

Die Debatte hätte ein Anlass sein können, leidenden Menschen ein Stück Selbstbestimmung zurückzugeben. Das macht die unhaltbaren Zustände in Heimen und Kliniken nicht besser, auch kann Sterbehilfe kein Ersatz für eine mitfühlende Begleitung am Lebensende sein. Doch der assistierte Suizid muss für jene ein Ausweg sein können, die unheilbar krank sind und nicht länger Teil eines gesichtslosen Versorgungssystems sein wollen. Dass die Mehrheit der Deutschen, wie es Studien immer wieder bestätigen, sich die Möglichkeit des assistierten Suizids bei schwerer Krankheit ausdrücklich wünscht, ist nicht einmal entscheidend.

Es wäre auch dann die Pflicht einer offenen und mitfühlenden Gesellschaft, Todkranken eine angemessene Form der Sterbehilfe zu ermöglichen, wenn die Mehrheit der Bürger dies verabscheute. Selbstbestimmung ist keine Frage von Mehrheiten.

Die Regelung, die der Bundestag am Freitag getroffen hat, gibt den Kranken ihre Selbstbestimmung nicht zurück. Aber immerhin haben die Abgeordneten den umstrittenen Sterbehilfe-Organisationen nun richtigerweise einen Riegel vorgeschoben, sodass Sterbehilfe in Deutschland nicht länger Sache dubioser Todesmakler ist. Die Frage bleibt, wer Sterbenskranke stattdessen begleiten soll.

Ärzte, zu denen ein gewachsenes Vertrauensverhältnis besteht, wären für diese Aufgabe am ehesten geeignet. Allerdings verbietet es derzeit das ärztliche Standesrecht, Schwerkranken beim Suizid zu helfen. In Zukunft, so lautet die Sorge der Kritiker des neuen Gesetzes, könnten Onkologen und Palliativmediziner Besuch vom Staatsanwalt bekommen, wenn sie helfen. Welcher Arzt mag sich diesem Risiko aussetzen?

Auf diese Weise stellen Politik und Ärztekammern viele Todkranke vor eine geradezu unmenschliche Wahl, allen guten Absichten zum Trotz: Entweder müssen sie gegen ihren Willen weiterhin leiden, ins Ausland gehen - oder sich eine Verzweiflungstat überlegen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2725710
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 07.11.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.