Spuren der Gewalt:Die kranken Kinder des Genozids

Spuren der Gewalt: Ros Mom lebt mit ihrem Mann unweit der Tempelruine Angkor Wat im Dschungel. Vor einigen Monaten hatte sie kein Geld mehr, um das für sie lebenswichtige Insulin zu bezahlen.

Ros Mom lebt mit ihrem Mann unweit der Tempelruine Angkor Wat im Dschungel. Vor einigen Monaten hatte sie kein Geld mehr, um das für sie lebenswichtige Insulin zu bezahlen.

(Foto: Thomas Cristofoletti/Ruom)

Mehr als 30 Jahre nach Folter und Hunger in Kambodscha zeigt sich: Die grausamen Erlebnisse der Opfer haben bei den Nachkommen Spuren im Erbgut hinterlassen.

Reportage von Hanno Charisius, Siem Reap

Ros Mom trägt Socken an diesem heißen Tag. Niemand soll ihre bloßen Füße sehen, während sie auf dem Bett in ihrer Wellblechhütte sitzt, in einem kleinen Dorf bei Siem Reap, im Nordwesten Kambodschas. Ros Mom wohnt unweit der Tempelruine Angkor Wat, doch von dem Geld, das die zwei Millionen ausländischen Touristen pro Jahr ins Land bringen, merkt man hier im Dschungel wenig. Die Straßen um die Tempel sind asphaltiert, zu Ros Moms Hütte führt nur ein lehmiger Pfad. Vor ein paar Monaten fraß sich ein Geschwür in ihren linken Fuß, weil sie kein Geld hatte, um Insulin zu kaufen, zur Behandlung ihres Typ-2-Diabetes.

25 Dollar kostet die Monatsration des lebenswichtigen Medikaments, erzählt die Mutter von vier Kindern, während ein alter Ventilator langsam quietschend die heiße Luft unter dem Wellblech ihrer Hütte quirlt. Erst als das Geschwür entstand, ging sie wieder in die Klinik der kambodschanischen Diabetes-Gesellschaft CDA, zu ihrem Arzt Lim Keuky.

Das Gebäude des Mediziners liegt in einer schlammigen Seitenstraße von Siem Reap. Von hier aus führt der 80 Jahre alte Endokrinologe seinen Kampf gegen Übergewicht, Diabetes und die Last der Vergangenheit. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO leiden etwa sechs Prozent der 16,6 Millionen Kambodschaner an Diabetes, davon rund 90 Prozent am Typ 2. Im weltweiten Vergleich erscheint die Zahl nicht dramatisch, doch die rasante Zunahme vor allem an jungen Patienten ist das, was Lim Keuky bestürzt. In anderen Erdteilen ist der typische Typ-2-Diabetiker alt, übergewichtig und bewegt sich nicht genug. In die Klinik am Rande Siem Reaps kommen zunehmend normalgewichtige Mitte-dreißig-Jährige, deren Körper den Zuckerhaushalt nicht mehr allein regulieren kann.

Spuren der Gewalt

In loser Folge berichtet die SZ, was Krieg, Terror und Folter mit Gesellschaft und Menschen machen. Alle Texte der Serie finden Sie hier ...

Die meisten dieser Patienten kamen zur Welt, als in Kambodscha die Roten Khmer regierten und Millionen Menschen hungern ließen, folterten, töteten. "Das Regime der Roten Khmer war kurz - aber lang genug, um generationenübergreifenden Schaden anzurichten", sagt Lim Keuky. Und nicht nur in seinen Augen hängen die schrecklichen Erfahrungen unter dem Regime Pol Pots mit den Leiden seiner Patienten zusammen.

Seit einigen Jahren diskutieren Biochemiker im neuen Forschungsfeld der Epigenetik, wie die Umwelt Einfluss auf die molekulare Biologie eines Menschen ausüben kann. Hunger, Stress und Gewalt scheinen zu verändern, wie die Zellen den DNA-Code der Gene interpretieren und hinterlassen so Spuren im Erbgut. Die Münchner Medizinerin und Neurowissenschaftlerin Elisabeth Binder, heute Direktorin am Max-Planck-Institut für Psychiatrie, konnte vor einigen Jahren zeigen, dass Menschen, die in früher Kindheit traumatisiert wurden, dieses Trauma auch später im Leben noch immer wie Narben am Erbgut in ihren Zellen tragen.

Wahrscheinlich werden einige dieser epigenetischen Veränderungen sogar an die nächste Generation weiter gegeben. Für Binder steht deshalb außer Frage, dass die Wechselwirkung zwischen Erbgut und Umwelt viel stärker berücksichtigt werden sollte, nicht nur in Kambodscha, sondern zum Beispiel auch bei der medizinischen und psychologischen Versorgung von Flüchtlingen in Deutschland.

In Siem Reap reicht Lim Keuky zur Begrüßung die Hand, statt die beiden Handflächen vor dem Oberkörper aneinanderzulegen, wie es in seiner Heimat üblich ist. Er kennt westliche Gepflogenheiten, hat in den USA und Frankreich studiert. Erst bespricht er noch den Rest des Tages mit seinen Mitarbeitern, dann setzt er sich, blickt einen Moment ins Leere und sagt: "Ich bin hier, um Leben zu retten."

Einflüsse aus der Umwelt können steuern, welche Erbanlagen aktiv werden

Im Jahr 2010 hat der Mediziner die Klinik in Siem Reap gegründet. 1200 Diabetes-Patienten behandeln er und seine zwei Kollegen, mehr schaffen sie nicht. Ihr Arbeitsplatz besteht im Wesentlichen aus einem großen Raum, Sprech- und Behandlungszimmer sind durch Regale und Vorhänge abgetrennt. Nur die Toilette und der klimatisierte Raum mit den Medikamenten haben eine Tür. Es ist neun Uhr morgens, und die ersten 20 Patienten sind schon wieder auf dem Weg zu ihrer Arbeit. Die meisten kommen nicht allein zur Untersuchung, sondern bringen Verwandte mit. Schnell stehen Ärzte, Patienten und Angehörige Schulter an Schulter im Raum.

Noch immer hat sich das Land nicht erholt von den Schrecken der Roten Khmer.

Am 17. April 1975 marschierten sie in die Hauptstadt Phnom Penh ein, die Guerillabewegung wollte den Kommunismus nach Kambodscha bringen. Zwei Tage später begannen die Soldaten, die Stadtbewohner aufs Land zu deportieren, wo sie Reis anbauen sollten. Die Hauptstadt war innerhalb von 24 Stunden fast menschenleer. Viele Menschen wurden verhaftet, ohne je den Grund dafür zu erfahren. Für die Soldaten genügte die angeordnete Verhaftung einer Person als Schuldbeweis. Die Roten Khmer brachten gezielt die Gebildeten um, Erfahrung und Wissen galten dem "Bruder Nummer 1" Pol Pot nichts, für ihn zählte allein die Willenskraft des Volkes.

Lim Keuky konnte das Land damals noch verlassen, bevor das Morden begann. Als er zurückkehrte waren 42 Mitglieder seiner Familie tot. Drei Jahre, acht Monate und 20 Tage wütete das Regime Pol Pots. Allein in dieser kurzen Zeit starben zwischen 1,4 und 2,2 Millionen Menschen, genauere Zahlen gibt es nicht, obwohl die Roten Khmer akribisch Buch führten über die Menschen, die sie in ihren Vernichtungslagern auslöschten. Die Menschen, die vor Entkräftung auf den Feldern starben oder verhungerten, sind ungezählt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: