Zwei lange Tage und eine Nacht verkriecht sich Alba Mendivelso unter dem Tisch im Wohnzimmer, mit ihren vier Geschwistern und ihrer Mutter. Der Vater hat noch zwei Matratzen über die Tischplatte gestülpt - zum Schutz vor den Gewehrkugeln und Bombensplittern. Es ist Juli, drückend heiß, eng und laut, die kleine Schwester brüllt, bis sie die Kräfte verlassen. Die Familie isst Reis und trinkt Zuckerwasser, bis ihr am zweiten Tag das Essen ausgeht, die Guerillakämpfer mit ihren Schnellfeuerwaffen stehen vor der Haustür, ein Militärflugzeug kreist über dem Dorf.
Der Vater José* muss neuen Reis besorgen, beschließt die Familie, doch wie an der Guerilla und den Soldaten vorbeikommen, die sich in dem kleinen Ort Puerto Lleras im Südwesten Kolumbiens erbittert bekämpfen? José mus es versuchen, die Familie hat Hunger und Durst. Es werden Stunden vergehen, bis der Vater endlich zurückkehrt, er wird Glück haben, noch dieses eine Mal.
Alba Mendivelso (hinten links) und ihre vier Geschwister mussten als Kinder miterleben, wie abwechselnd FARC-Kämpfer oder paramilitärischen Milizen ihr Dorf terrorisierten.
(Foto: Jorge Panchoaga)Am nächsten Morgen laufen Soldaten von Tür zu Tür, sie haben von nun an im Dorf das Sagen. Alba Mendivelso klettert unter dem Tisch hervor, läuft durch die zerbombten Straßen, in einem halb ausgebrannten Hotel liegen eine Frau, ein Mann mit deren kleiner Tochter in einem der Zimmer, die verkohlten Füße ragen unter einem Bett hervor. Alba Mendivelso ist zwölf Jahre alt.
An diesem Morgen ist Alba Mendivelso in einem weißen Jeep in jene Dörfer gefahren
Zwei Wochen lang roch es im Dorf nach Tod, erinnert sie sich heute an jenen Sommer 1999, sie saugt unwillkürlich Atemluft ein, schließt die Augen, als könne sie den Gestank noch immer wahrnehmen. Alba Mendivelso ist heute 30 Jahre alt, eine hübsche Frau mit hohen Wangenknochen, langen Haaren und einem ansteckenden Lachen, das vergessen lässt, was sie erlebt hat, was ihre Nachbarn und unzählige andere Menschen ertragen mussten in diesem mehr als 50 Jahre währenden Bürgerkrieg in Kolumbien.
In loser Folge berichtet die SZ, was Krieg, Terror und Folter mit Gesellschaft und Menschen machen. Alle Texte der Serie finden Sie hier ...
Ein Krieg, in dem das Militär die Guerilla bekämpfte, vor allem die Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, kurz Farc. Auch die rechten Paramilitärs, oft von den Streitkräften unterstützt oder geduldet, lieferten sich erbitterte Gefechte mit den Guerilleros. Mehr als 220 000 Tote hat der Konflikt gekostet, mehr als sechs Millionen Menschen mussten ihre Häuser oder Wohnungen verlassen, viele Kolumbianer gerieten zwischen die Fronten und wurden dort überrannt. Erst seit Beginn der Friedensverhandlungen im Jahr 2011 können die Opfer des Kriegs zur Ruhe kommen, nach Jahren voller Angst, Terror und Trauer.
Im Dorf El Piñal gerieten die Bewohner zwischen die Fronten. Hier bekämpften sich die FARC-Guerilla mit den kolumbianischen Streitkräften. Inzwischen sind über die Sandsäcke Baumwurzeln gewachsen.
(Foto: Jorge Panchoaga)Und fast scheint es, als hätten sie und andere Kolumbianer nur darauf gewartet, dass jemand sie nach ihren schrecklichen Erlebnissen befragt. Viele von ihnen reden hastig und lange, oft mehr für sich selbst als für den Zuhörer, als könnten sie sich so von ihren Erfahrungen lösen. Vor allem aber lachen sie. Sie lachen, wenn sie von ihrer Angst erzählen, sie lachen, wenn sie eigentlich weinen sollten, sie lachen, als könnten sie damit alle Dämonen der Vergangenheit vertreiben.
An diesem Morgen ist Alba Mendivelso in einem weißen Jeep in jene Dörfer gefahren, in denen sie gelebt und gearbeitet hat. Sie ist über ungeteerte Straßen voller Pfützen und durch roten Matsch gerast, in die Region Meta, südlich der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá, hier wurde auch die entführte Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt einst gesichtet. Mendivelso arbeitet heute als Hilfskrankenschwester bei der internationalen Organisation Ärzte der Welt, sie fährt mit mobilen Einsatzteams aus Ärzten und Psychologen regelmäßig in die Gegend, um Menschen medizinisch zu versorgen und vor allem, um ihnen Mut zuzusprechen, ihnen Wege zu zeigen, sich nach Jahren des Terrors ein neues Leben aufzubauen. Ihre Arbeit zeigt, was an psychiatrischer Hilfe in den entlegenen Dörfern Kolumbiens bislang möglich ist, und was die Opfer des Bürgerkriegs eigentlich bräuchten. Wie ein traumatisiertes Volk heilen kann, können auch andere kriegsgeplagte Länder daraus lernen.
Mehr als zehn Prozent der Kolumbianer leiden an Depressionen oder Angststörungen, ergab eine Erhebung des Psychiaters Carlos Gómez Restrepo von der Universität Javeriana in Bogotá vor ein paar Monaten. Drei Prozent leiden an einem posttraumatischen Stress-Syndrom, fast drei Prozent haben versucht, sich das Leben zu nehmen.
Das Einsatzteam von 'Ärzte der Welt' fährt regelmäßig in entlegene Dörfer, um die Menschen dort medizinisch zu versorgen.
(Foto: Jorge Panchoaga)Im kleinen Ort Costa Rica säumen gelbe, blaue, rote Häuser aus billigem Backstein und Wellblechdächern einen viereckigen Platz, auf dem Gehsteig sitzen zwei alte Männer schweigend auf roten Plastikstühlen, es ist sehr still und sehr heiß, in einem Laden baumelt die Kralle eines toten Adlers an einem Wollfaden von der Decke.
Susana Sánchez* betritt leichtfüßig das Geschäft, sie trägt ein sorgfältig gebügeltes weißes Polohemd, den dunkelblonden Zopf hat sie quer über den Kopf geflochten. Ihre weißen Zähne blitzen, ihre Augen ebenfalls, als sie in ihr Haus einlädt. Auf ihrem Esstisch aus Glas liegt eine offene Bibel, daneben drei Mangos, in der Kochecke tropft der Wasserhahn laut und eindringlich, woran sich aber niemand stört.
Susana Sánchez windet sich zunächst auf ihrem Stuhl, versteckt sich hinter einem strahlenden Lachen, bevor sie zu reden beginnt. Mit einer Psychologin von Ärzte der Welt habe sie lange gesprochen, erzählt die 34-Jährige schließlich. Dass sie stark sei und tapfer, habe die ihr gesagt, das wiederholt sie immer wieder, sie erzählt auch von dem Fußballturnier, das sie im vergangenen Jahr mit ihrer Frauenmannschaft gewonnen hat, der goldfarbene Pokal steht im Wohnzimmer. Den traumatisierten Menschen Mut zuzusprechen, sie ins Hier und Jetzt zurückzuholen, ist eines der großen Ziele der Psychologen.
Paramilitärische Milizen zerschossen die edlen Gräber der Farc-Kämpfer mit Maschinenpistolen.
(Foto: Jorge Panchoaga)Ihre Vergangenheit hat die junge Frau in ein weißes Stück Stoff eingewickelt, das sie erst auf Nachfrage hervorholt. Als Susana Sánchez den Knoten im Tuch löst, kommen alte Fotos in Plastikhüllen hervor. Sie hat die Bilder lange nicht angesehen, die von ihrem Mann Lorenzo* zum Beispiel, schlank, großer Schnurrbart und Cowboyhut, er besaß fünf Hunde, jagte in seiner Freizeit gern Gürteltiere.
Oben in den Bergen besaßen sie eine Baracke aus Wellblech und Holz, die sie liebevoll Finca nannten, dort bestellten sie große Coca-Plantagen, verdienten mit der Produktion von Coca-Paste gutes Geld. Bis drei vermummte Gestalten an jenem Sommertag auftauchten und eine angeblich ausstehende Coca-Lieferung einforderten. Um zehn Uhr hörte Susana Sánchez die Schüsse, an jenem 22. August 2006. Die rechten Milizen hatten ihren Mann erschossen, den Leichnam nahmen sie einfach mit.
Von dem Lärm aufgeschreckt, verbarg sich die junge Frau mit ihrem Sohn unter dem Herd ihrer Küche, gleich neben dem tropfenden Wasserhahn. Nachbarn warnten sie, dass die Milizen nach ihr suchten, sie beschloss, das Dorf sofort zu verlassen. Drei lange Jahre sollte sie nicht zurückkehren können, zu gefährlich war die Gegend für sie geworden. Dem fast dreijährigen Sohn sagte sie, dass der Vater nun im Himmel sei, wann er von dort zurückkäme, fragte das Kind, dann erst überfiel sie der Schmerz. Susana Sánchez fängt auch im Gespräch an zu weinen, springt auf, holt sich ein Handtuch, lacht, als sie sich das nasse Gesicht abwischt. Was ihr damals half? Einfach weiterzumachen, zu arbeiten, zu leben für ihren Sohn.
Sie tun, was sie können, die Psychologen und Ärzte, wenn sie in den Dörfern im Einsatz sind. Doch können sie die Orte höchstens zweimal im Jahr besuchen, zu viele Menschen warten auf Hilfe. Viele Dorfbewohner klagen zunächst über Rückenschmerzen oder Schlafstörungen, erst im Gespräch stellt sich heraus, dass die körperlichen Beschwerden nur Symptome ihrer verletzten Psyche sind. Denen, den es besonders schlecht geht, verschreibt die Psychologin Paola D'Vera Antidepressiva, per Telefon versucht sie ihre Patienten dann weiter zu begleiten.