Süddeutsche Zeitung

Sprachprobleme bei Kindern:Starthilfe für Spätzünder

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Eltern mögen es niedlich finden, wenn ein Dreijähriger in Babysprache spricht. Förderlich für seine Entwicklung ist es nicht. Nur bei etwa der Hälfte der betroffenen Kinder wachsen sich Sprachdefizite noch aus. Die Familien können einiges dafür tun.

Christina Berndt

Lucas war ein Spätzünder. Mit drei Jahren konnte er kaum mehr als "Mama" sagen. Wenn er etwas trinken wollte, hieß das "bubu". Selbst für seine geliebten Pferde fand er nicht mehr als den Ausdruck "mäh". So wie Lucas lernen etwa 20 Prozent aller Kinder das Sprechen sehr spät. Während ihre Kindergartenfreunde schon ganze Sätze sagen, drucksen die sprachlichen Spätentwickler noch mit Babylauten herum. Zur Freude der Eltern trägt das meist nicht bei. Nicht nur, weil es das Leben nun einmal leichter macht, wenn man sich zielorientiert austauschen kann und statt unwilligen Kreischens ein konstruktives "Ich will . . ." vernimmt. Manche Eltern reagieren auf die Sprachlosigkeit ihres Nachwuchses mit großer Sorge.

Diese Sorgen machen sie sich zu Recht, betonten Experten nun während der Jahrestagung der Amerikanischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften AAAS in Vancouver. Sie wollen Eltern der "Late Talkers", wie die Kinder in Fachkreisen heißen, aufrütteln. "Immer noch finden es viele Erwachsene niedlich, wenn ein Dreijähriger in Babysprache spricht", sagt Nan Ratner von der Universität Maryland. "Doch eine verzögerte Sprachentwicklung kann auch bei normaler Intelligenz in schwerwiegenden Verhaltensproblemen resultieren, weil das soziale Miteinander und das Selbstbewusstsein in Mitleidenschaft gezogen werden."

Weltweit bemühen sich Fachleute daher, betroffene Kinder möglichst schon im Alter von zwei Jahren zu entdecken. Je früher geholfen werde, desto größer sei der Erfolg, so Ratner. Als auffällig gilt ein Kind, das an seinem zweiten Geburtstag noch keine 50 Wörter beherrscht und auch Zweiwortsätze wie "Mama Schuhe" nicht zu konstruieren vermag. Jungen müsse man noch einmal etwa 15 Prozent Nachlass geben, weil sie hinter den Mädchen im Schnitt um diese Größenordnung zurückliegen, sagte Leslie Rescorla vom Bryn Mawr Child Study Institute der Yale University.

Trotz ihres Einsatzes für die Früherkennung geben Ratner und Rescorla zu, dass sich das Problem bei vielen Kindern auch von selbst auswächst. Die Bandbreite in der Entwicklung sei gewaltig. Bis zum Alter von zweieinhalb Jahren könnten Eltern daher abwarten, sofern ein Hörtest sichergestellt hat, dass der magere Wortschatz keinen körperlichen Hintergrund hat. Wenn das Kind mit 30 Monaten aber immer noch drastisch hinterherhinke, sollten sie etwas unternehmen.

Etwa bei der Hälfte der Kinder, die bei dem 50-Wörter-Test auffallen, manifestiert sich das Sprachdefizit und entwickelt sich wiederum bei der Hälfte von ihnen später zu einer Legasthenie. Doch die andere Hälfte der Kinder hat im Alter von drei oder vier Jahren die Gleichaltrigen eingeholt. Auch Lucas ist nun fast vier und plappert genauso gut wie seine Altersgenossen. "Aus Late Talkers werden häufig Late Bloomers", sagt Rescorla, Spätblüher also. "Das Problem ist nur, dass wir nicht wissen, welches Kind aufholt."

Es gibt allenfalls Indikatoren. So entwickeln sich jene Kinder offenbar besser, die Gesten benutzen oder viele Wörter verstehen, ohne sie zu sprechen. Dass die Sprachtests beim Kinderarzt, wie es sie auch in Deutschland im Rahmen der Untersuchung U7 im Alter von zwei Jahren gibt, somit zahlreiche Eltern in unnötige Sorge versetzen, hält Rescorla vor diesem Hintergrund für gerechtfertigt. Immerhin könne Risikokindern so wirksame Hilfe angeboten werden.

Dieser Ansicht ist auch die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin. Eine echte Sprachtherapie sei zwar bei Kleinkindern noch nicht indiziert, wohl aber eine Förderung nach dem Vorbild des Heidelberger Elterntrainings, dessen Wirksamkeit wissenschaftlich belegt sei. So haben in einer Studie mit 58 Late Talkers drei von vier Kindern ihren Rückstand aufgeholt, wenn die Eltern trainiert wurden; von den Kindern mit untrainierten Eltern haben das weniger als die Hälfte geschafft.

In dem Interaktionstraining, das Anke Buschmann vom Sozialpädiatrischen Zentrum am Universitätsklinikum Heidelberg entwickelt hat, lernen die Eltern in sieben zweistündigen Gruppensitzungen zum Beispiel, wie sie mit ihren Kindern beim Buchanschauen ins Gespräch kommen. Die wenigsten Zweijährigen wollten ein Buch von vorne bis hinten vorgelesen bekommen, sagt die Psychologin. Vielmehr sollten die Eltern den Kleinen die Regie überlassen und mit ihnen über das reden, worauf sie zeigen. "So kommt es zu einer besseren Kommunikation."

Und statt im Alltag auf jeden mit einem nörgelnden "Äääh" verbundenen Fingerzeig hin ihrem Sprössling dienstbeflissen den gewünschten Gegenstand zu reichen, sollten Eltern dazu auffordern, verbal um etwas zu bitten.

Nur wenn den Familien solche Hilfe angeboten wird, sollten Kleinkinder aber einem Sprachtest unterzogen werden, betont Buschmann. "Sonst werden Eltern unnötig verunsichert und in ihrem Kommunikationsverhalten mit dem Kind womöglich noch zusätzlich gehemmt." Manche Eltern quasseln dann auf ihr Kind ein und nehmen ihm so den Raum zum selbständigen Sprechen; andere schaden dem Kontakt mit ihrem Kind, indem sie es ständig verbessern, es zum Nachsprechen auffordern oder so tun, als würden sie es nicht verstehen. "Solche Verhaltensweisen führen eher zu einer Abnahme der kindlichen Kommunikationsfreude", sagt Buschmann.

Vor allem, ergänzt Rescorla, sollten Eltern mit ihrem Nachwuchs über Dinge reden, die das Kind interessieren. Denn nur wenn die Kleinen erkennen, welch wertvolles Mittel Sprache sein kann, werden sie sie nutzen. So wie das Kind, das im berühmten Logopäden-Witz mit fünf Jahren zum allerersten Mal ein Wort sagt, indem es beim Essen nach Salz verlangt. "Du kannst ja sprechen", sagen die erstaunten Eltern. "Warum hast du all die Jahre nichts gesagt?" - "Bislang", antwortet das Kind, "war ja immer alles in Ordnung."

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SZ vom 22.02.2012
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