Süddeutsche Zeitung

Epidemiologie:Geld oder Leben

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Das Dilemma der Covid-19-Krise ist nicht neu: Auch vor 150 Jahren, während eines Cholera-Ausbruchs in Bayern, wurde zwischen Seuchenschutz und Wirtschaft abgewogen.

Von Astrid Viciano

Was für eine Forderung: Die Grenzen sollten geöffnet bleiben, trotz der Pandemie. Der Handel müsse wie gewohnt weiterlaufen, als gäbe es den Ausbruch eines gefürchteten Krankheitserregers gar nicht. Notfalls müsse man Menschenleben für den allgemeinen Wohlstand opfern, so wie Soldaten in einem Krieg. Das war eine Forderung, die nicht etwa in der aktuellen Corona-Krise zu hören war, sondern vor mehr als 150 Jahren, bei einem großen Cholera-Ausbruch in Bayern.

"Die Diskussionen damals waren ähnlich wie heute", sagt Wolfgang Locher, Leiter des Arbeitsbereichs Geschichte der Medizin am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der Ludwig-Maximilians-Universität München. Vor allem der einflussreiche Münchner Wissenschaftler Max von Pettenkofer sprach sich damals gegen Maßnahmen aus, die der Wirtschaft schaden würden. Obwohl sich die Durchfallerkrankung in der Stadt ausbreitete, obwohl die Hälfte der Erkrankten daran starben, warb er dafür, andere Wege zu gehen. "Für ihn waren Handel und Verkehr die Grundlagen der modernen Gesellschaft", erklärt Locher. Und die wollte der Chemiker, Mediziner und Pharmazeut, nach dem in München eine Straße und ein Institut benannt sind, unbedingt bewahren.

Die Haltung Pettenkofers zeigt, wie sich das Menschenbild im Laufe der vergangenen 150 Jahre gewandelt hat, was dem Einzelnen abverlangt werden kann, wie viel das Individuum in einer Gesellschaft zählt. "Im Gegensatz zu früher steht der Wert eines Menschenlebens heute im Vordergrund", sagt der Medizinhistoriker. Für jedes Individuum und seine Gesundheit müsse das bestmögliche getan werden. Pettenkofer dagegen sah die Gesundheit eines einzelnen Menschen nur als Grundlage dafür, möglichst viel für die Gesellschaft zu leisten.

1854 erkrankte Pettenkofer selbst an Cholera, seine Tochter starb fast daran

Für diese Weltanschauung einsetzen konnte sich Pettenkofer besonders, als die bayerische Regierung ihn im Jahr 1849 in eine Kommission berief, um die Cholera zu erforschen. Eine erste Cholera-Epidemie hatte die Bevölkerung in den Jahren 1831 und 1832 bereits in Schrecken versetzt, nun drohte eine zweite aus dem Osten.

Im Jahr 1854 erkrankte Pettenkofer selbst an der Cholera, seine Tochter Anna starb sogar fast daran. Daher beschloss der Chemiker, die Durchfallerkrankung aktiv zu bekämpfen. Statt jedoch die Grenzen zu schließen und den Handel einzustellen, setzte Pettenkofer darauf, die Stadt von Grund auf zu säubern. München war seinerzeit ein Moloch, Schlachtabfälle verrotteten auf öffentlichen Plätzen, die Fäkalien in stinkenden Sitzgruben hinter den Häusern verschmutzten die nahe gelegenen Brunnen. Auf engstem Raum lebten die Menschen damals bei schlechter Luft, sauberes Trinkwasser gab es nicht.

Pettenkofer war überzeugt, dass der verschmutzte Boden eine wesentliche Rolle bei der Ansteckung mit Cholera spielte. Der Wissenschaftler vermutete ebenso wie seine Kollegen, dass etwas in der Luft liegt, das mit der Infektion zu tun hatte. So dachte er an eine flüchtige Chemikalie, die allerdings erst nach einer Art Reifungsprozess im Boden die Erkrankung befeuerte. "Ähnlich wie ein Dünger das Wachstum von Pflanzen fördert, ging Pettenkofer davon aus, dass aller Schmutz in der Erde zum Ansteckungsprozess beitrug", sagt der Medizinhistoriker Locher - die Fäkalien aus den Sitzgruben, die Abfälle aus den Schlachthöfen, der alltägliche Müll der Stadtbewohner auf den Straßen.

Pettenkofer gilt als Begründer der wissenschaftlich fundierten Hygiene

Daher setzte der Chemiker durch, dass München eine Kanalisation erhielt, an die alle Haushalte der Stadt angeschlossen werden sollten. Damit sickerten Fäkalien und Abwässer nicht mehr in den Boden und auf die Straßen, sondern wurden über die neuen Leitungen abtransportiert. Nach und nach würde sich der Boden der Stadt reinigen, weil die alten Abfälle verrotteten und keine neuen mehr nachkämen, hoffte Pettenkofer. Damit würde der Reifungsprozess des Krankheitsauslösers im Boden ausgebremst. Mit seiner Bodentheorie lag Pettenkofer zwar falsch. "Doch gelang es ihm, trotz seines Irrtums genau das Richtige gegen die Ausbreitung der Infektionskrankheit zu tun", sagt Locher.

Auch forschte Pettenkofer zur Qualität des Wassers und der Luft, gilt als Begründer der wissenschaftlich fundierten Hygiene. Besonders beim Militär regte er neue Maßnahmen an, dass etwa nicht mehr bis zu 120 Soldaten in einem riesigen Schlafsaal eingepfercht waren, sondern nur noch zehn bis zwölf pro Raum.

Im Jahr 1883 entdeckte der Mediziner Robert Koch schließlich das Bakterium Vibrio cholerae als Auslöser der Durchfallerkrankung. Das hielt Pettenkofer jedoch nicht davon ab, auf seiner Bodentheorie zu beharren. Um den Rivalen Koch zu widerlegen, wagte er im Oktober 1892 sogar einen gefährlichen Selbstversuch: Obwohl seine Studenten ihn davon abhalten wollen, trank er vor deren Augen eine Flüssigkeit voller Cholera-Bakterien. Warum er im Anschluss nur leicht erkrankte, lässt sich nur vermuten. Vielleicht war er wegen seiner bereits durchlebten Cholera-Erkrankung zum Teil immun. Stattdessen hatte Pettenkofer mit seinem Experiment vor allem eines bewiesen: Dass er selbst bereit war, im Dienst der Wissenschaft sein Leben aufs Spiel zu setzen, wie ein Soldat auf einem Schlachtfeld.

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