Seltene Krankheiten:Diagnose: unbekannt

Carine Wouters und Adrian Liston

Entdeckungsreise im Labor: Adrian Liston und Carine Wouters suchten zehn Jahre lang nach der Ursache einer seltenen Krankheit.

(Foto: Wim Kempenaers)

Erst in der Notaufnahme erfährt der Vater, dass sich sein Sohn in Lebensgefahr befindet. Doch keiner der Ärzte kann ihm sagen, woran das Kind leidet. So ergeht es vielen Menschen mit seltenen Krankheiten.

Von Astrid Viciano

Peter Drost* ahnte nicht, wie nahe sein Sohn dem Tode war, als er ihn an jenem Morgen im April 2007 in sein Auto hievte. Schläfrig war der Junge und blass, als ihn der Vater aus dem Westen Flanderns bis in die Uniklinik in Löwen fuhr. Erst später sollte sich herausstellen, dass Leber und Milz des Sohnes vergrößert waren, die Lunge mit Flüssigkeit gefüllt und sein Herz nicht mehr fähig war, in gleichmäßigem Takt zu schlagen. In der Notaufnahme mussten die Ärzte den Jungen wiederbeleben. Da war Jan 13 Jahre alt.

So schlimm war bis dahin noch niemand in der Familie erkrankt. Von klein auf hatte Jan immer wieder an starken Muskelschmerzen gelitten, ebenso wie sein Vater, sein Onkel und sein Großvater. Wie von einem Fluch getroffen, zeigten manche Mitglieder der Familie von Kindesbeinen an Symptome, die den Ärzten Rätsel aufgaben. An der Haut, im Darm, den Muskeln. "Niemand konnte uns wirklich helfen", erinnert sich Peter Drost. Nicht der Kinderarzt, nicht der Internist, nicht der Neurologe. Ein merkwürdiges Leiden hatte von der Familie Besitz ergriffen, seit mindestens drei Generationen.

Peter Drost hatte längst die Hoffnung aufgegeben, dass je die Ursache ihrer Beschwerden gefunden würde. Bis er in jenem Frühjahr 2007 am Bett seines Sohnes einen Stammbaum der Familie aufzeichnete, gemeinsam mit der Kinderrheumatologin Carine Wouters, zuständig unter anderem für Erkrankungen des Immunsystems. "Ich wurde gleich neugierig, als ich von der Familiengeschichte hörte", erinnert sich die Ärztin, eine Frau mit wohlwollendem, wachen Blick, modischem Kurzhaarschnitt und sehr aufrechter Körperhaltung.

Von 22 Mitgliedern der Familie litten zwölf an den rätselhaften Symptomen. Da sich die Erkrankung durch mehrere Generationen zog, musste eine genetische Ursache dafür zu finden sein, schlussfolgerte Carine Wouters. Sie sollte schließlich nicht nur die Ursache finden, sondern sogar eine neue Erkrankung beschreiben, ihr Name: PAAND, ein extrem seltenes Immunleiden. An diesem Beispiel konnte Wouters eindrucksvoll zeigen, wie viel besser seltene Erkrankungen heute erforscht werden können. Und wie diese Erkenntnisse auch anderen Patienten mit häufigen Leiden nutzen.

Wegen der Muskelkrämpfe musste Jan oft tagelang auf dem Sofa ausharren

Fast zehn Jahre lang war die Medizinerin auf der Suche, bevor sie diese Ergebnisse präsentieren konnte. Im Fachblatt Science Translational Medicine berichtete sie jüngst über ihre ungewöhnliche Entdeckungsreise. Eine Reise, die noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar gewesen wäre. Erst die Fortschritte der Gentechnik ermöglichen es ihr und ihren Kollegen, Mutationen im Erbgut präzise auszumachen, neue Erkrankungen wie jene der Familie Drost zu definieren oder auch ganz unterschiedliche Symptome ein und derselben Krankheit zuzuordnen, auf Grundlage der Erbinformation. "Das war für uns eine Revolution", sagt Wouters.

Vor allem seltene Erkrankungen, deren Ursache und Verlauf oft unklar sind, können auf diese Weise besser erforscht werden. Laut Definition erkranken nicht mehr als fünf von 10 000 Menschen an ihnen, an Mukoviszidose etwa oder auch der weitgehend unbekannten Hirschsprung-Krankheit. Ärzte gehen von etwa 7000 dieser Leiden aus, rund vier Millionen Patienten in Deutschland sind betroffen. "Diese Erkrankungen sind insgesamt gar nicht so selten", sagt Jürgen Schäfer, Leiter des Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Gießen-Marburg.

Vier von fünf der seltenen Erkrankungen gelten als erblich bedingt, bei vier von fünf der Betroffenen finden Ärzte erst im Erwachsenenalter die richtige Diagnose. Denn je weniger Menschen an einer Erkrankung leiden, desto geringer das Wissen über Ursachen, Symptome und Behandlungsmöglichkeiten. Und umso weniger Spezialisten kennen sich mit der Erkrankung aus.

Keiner in der Familie glaubte daran, jemals eine Diagnose zu bekommen

Peter Drost litt schon in der Grundschule an starken Muskelkrämpfen, so schlimm, dass er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Oft musste er tagelang auf dem Sofa ausharren. "Die Muskeln waren dann steinhart", erinnert sich der stämmige 50-jährige Mann mit dem runden, rosigen Gesicht. Mit seinem Bruder und seinem Vater ist er an diesem Tag aus Westflandern nach Löwen gereist, um erneut Blutproben abzugeben für die Forschung. Die drei Männer sprechen ohne Bitterkeit über ihre Beschwerden, sie haben gelernt, damit zu leben. Peter Drosts Bruder leidet bis heute an starker Akne im Gesicht, der Vater berichtet, dass seine Fußknöchel manchmal so stark angeschwollen waren, dass die Ärzte sein Bein in Gips legen wollten. Die Mediziner vermuteten einen Knochenbruch, dabei waren die Blutgefäße an den Unterschenkeln entzündet. Peter Drosts Sohn Jan bekam inzwischen ein fremdes Herz transplantiert.

Keiner von ihnen glaubte noch daran, dass Ärzte jemals eine Diagnose stellen würden. "Dabei ist das gerade für Menschen mit seltenen Erkrankungen so wichtig", sagt Mirjam Mann, Geschäftsführerin der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE). Um die bestmögliche Versorgung zu erhalten und von der Forschung zu profitieren. Oder auch nur, um zu erfahren, dass sie derzeit keine Chance auf Besserung haben.

Bisher wissen Mediziner noch zu wenig über die Patienten. Sie wissen nicht, wie viele Menschen an welcher der vielen seltenen Krankheiten leiden, wo die Betroffenen leben, wie alt sie sind, und wie die einzelnen Erkrankungen verlaufen. "Das ist wie ein schwarzes Loch, darüber haben wir keine Informationen", klagt Olaf Riess, Medizinischer Direktor des Zentrums für Quantitative Biologie und Leiter der Abteilung Medizinische Genetik an der Universität Tübingen.

Dabei sollte sich so viel tun in Deutschland. Im Jahr 2010 wurde das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit seltenen Erkrankungen gegründet, vom Bundesministerium für Gesundheit, dem für Bildung und Forschung und der Organisation ACHSE. Drei Jahre später folgte der Nationale Aktionsplan mit 52 Maßnahmevorschlägen. "Bislang ist das jedoch nicht viel mehr als ein Konzeptentwurf", sagt der Humangenetiker Riess.

So sollen Patienten künftig so schnell wie möglich spezialisierten Zentren zugewiesen werde, diese Einrichtungen sollen nun deutschlandweit entstehen. "Tatsächlich haben viele Kliniken solche Zentren gegründet. Doch wie sie finanziert werden sollen, ist völlig unklar", sagt Riess. Der Aufwand der Ärzte sei enorm, allein die Krankenakten der Patienten seien oft fünf Kilogramm schwer - voller Unterlagen aus früheren Arztbesuche. "Der Aufwand müsste von den Krankenkassen anders vergütet werden als bei normalen Patienten", sagt Riess.

Ganz anders sei das in Frankreich, dem Vorreiter in Europa. Dort wurde bereits der dritte Aktionsplan zu seltenen Erkrankungen verabschiedet, Krankheitsregister und Netzwerke wurden gegründet. Das Land bildet längst eine Anlaufstelle für Ärzte und Forscher aus ganz Europa. "Die Erforschung seltener Erkrankungen ist eine internationale Angelegenheit, eben weil die Erkrankungen selten sind und pro Land nur wenige Patienten daran leiden", sagt Mirjam Mann von der Organisation ACHSE. Um neue Wirkstoffe in Studien zu testen, brauchen Wissenschaftler jedoch eine möglichst große Anzahl erkrankter Menschen. Nur dann können sie seriöse Aussagen darüber treffen, ob die neue Substanz als Therapie taugt.

Auch Carine Wouters bat zunächst französische Kollegen um eine Genanalyse. Allen 22 Familienmitgliedern wurde Blut abgenommen, das Erbgut der gesunden mit jenen der kranken verglichen. "Die Kollegen fanden eine Genregion auf Chromosom 16, die bei den Patienten verändert war", erinnert sich die Ärztin. Doch erst ihr neuer Kollege, der Genetiker und Immunologe Adrian Liston, fand heraus, dass sich gesunde und kranke Patienten in genau einer Genmutation unterschieden. Und holte weitere Kollegen aus Australien und Großbritannien, Frankreich und Libanon mit ins Boot, um die Entdeckungsreise weiter voranzutreiben.

Die Erforschung der seltenen Leiden hilft auch Patienten mit häufigen Erkankungen

Längst haben Wissenschaftler wie Adrian Liston und Carine Wouters erkannt, dass die Erforschung seltener Erkrankungen auch Patienten mit häufigen Leiden weiterhelfen kann. "Wir sind nicht nur ethisch dazu verpflichtet, diesen Krankheiten nachzugehen. Darin bergen sich auch enorme Chancen", sagt der Marburger Internist Jürgen Schäfer. Seltene Erkrankungen stellten oft die Extremform häufiger Leiden dar, zum Beispiel von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Manche Kinder sterben bereits im Alter von sechs Jahren an einem Herzinfarkt, der Blutspiegel des LDL-Cholesterins ist bei ihnen extrem stark erhöht. Sie leiden an der besonders schweren Form einer familiären Hypercholesterinämie, einer seltenen Erbkrankheit.

"Die Erforschung dieser Erkrankung hat uns gezeigt, dass LDL-Cholesterin bei der Entstehung von Herzerkrankungen eine wichtige Rolle spielt", sagt Jürgen Schäfer. Und hat zur Entwicklung von erfolgreichen Therapien geführt, mit denen Mediziner die Konzentration dieser Blutfette senken können - und viele andere Patienten vor einem Herzinfarkt bewahren.

Auch an der Uniklinik in Löwen führte die Forschung an Jan Drost und seiner Verwandtschaft zu Erkenntnissen, die anderen Patienten womöglich weiterhelfen. Der Genetiker Adrian Liston fand nämlich heraus, dass die von ihm entdeckte Genmutation zu einer fehlgeleiteten Ausschüttung eines Immunbotenstoffs führt - ganz so, als wären Krankheitserreger in den Körper eingedrungen. Dabei hat der Forscher einen neuen Weg der Immunabwehr entdeckt, der durch den Fehlalarm irrtümlich in Gang kommt. Viren oder Bakterien, die anderen Wachposten der Körperabwehr entgangen sind, werden vermutlich von diesen Aufpassern ausgemacht. "Nun verstehen wir das Immunsystem viel besser als vorher", sagt Liston. Und damit auch andere Erkrankungen.

Eine häufige Krankheit verwandelt sich plötzlich in viele verschiedene Leiden

Um schon Medizinstudenten für das Thema zu begeistern, stellt der Marburger Mediziner Jürgen Schäfer seit Jahren in einer Vorlesung seltene und rätselhafte Erkrankungen vor - in Anlehnung an die US-Fernsehserie über den ebenso skurrilen wie brillanten Dr. House. Und für niedergelassene Ärzte hat der Tübinger Humangenetiker Olaf Riess vor vier Jahren eine Fortbildungsakademie ins Leben gerufen. 50 bis 60 Mediziner nehmen pro Seminar teil, mal geht es um seltene Tumorerkrankungen, mal um seltene Ursachen von Gehörverlust. Spezialisten verschiedener Fachrichtungen kommen zu Wort, ebenso wie Selbsthilfegruppen.

"Die Kollegen können auch Patienten mitbringen, bei denen sie eine seltene Erkrankung vermuten", sagt Olaf Riess. Vor allem aber sollen die Ärzte lernen, überhaupt an die Möglichkeit einer seltenen Erkrankung zu denken und die Betroffenen an spezialisierte Zentren weiterleiten. Auch wenn das nicht immer sofort weiterhilft - auf einen Termin beim Marburger Internisten Jürgen Schäfer müssen Patienten zwei Jahre lang warten.

Daher mühen sich Mediziner, moderne Computerprogramme in die Diagnosefindung miteinzubeziehen, so auch der Krebsmediziner Lorenz Grigull von der Medizinischen Hochschule Hannover. Die Idee kam ihm, als er vor Jahren mit seinen Kindern ein neues Spiel ausprobierte. 20 Fragen sollten ausreichen, um herauszufinden, woran der andere gerade dachte. "So etwas Ähnliches wollte ich für die Klinik entwickeln", sagt er.

Gemeinsam mit Kollegen aus der Bioinformatik hat Lorenz Grigull in seinem Projekt eine Liste mit 53 Fragen entwickelt, um Patienten mit einer seltenen Erkrankung herauszufiltern. Etwa mit der Frage, ob sie je eine Situation als lebensbedrohlich wahrgenommen haben oder ob sie schon länger den Eindruck haben, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Den Fragebögen hatten zunächst 1700 Menschen ausgefüllt, die teils an einer häufigen oder seltenen Erkrankung litten, oder gesund waren. Daraus lernte das Computerprogramm, die Antwortmuster von Patienten mit seltenen Erkrankungen zu erkennen.

Auch die neuen Möglichkeiten der Gentechnik erlauben es heute, Krankheiten genauer zu charakterisieren. "Schon lange gibt es zum Beispiel nicht mehr den einen Lungenkrebs, sondern viele verschiedene Formen", sagt Heyo Kroemer, Dekan der Universitätsmedizin Göttingen und Präsident des Medizinischen Fakultätentags. Eine häufige Krankheit verwandelt sich plötzlich in viele verschiedene Leiden, die nur wenige Menschen treffen. Und jedes einzelne von ihnen wird in seinem Verlauf wiederum individuell zu betrachten sein, auch bei der Wahl der Therapie.

Im Gegensatz zu früher ist es heute leicht möglich, Hunderttausende potenzielle Wirkstoffe auf ihre Wirksamkeit zu testen, in Zelllinien mit einer bestimmten Genmutation. "Allein aus diesem Grund werden wir in den nächsten Jahren viele neue Medikamente zur Therapie seltener Erkrankungen bekommen", sagt der Göttinger Pharmakologe Heyo Kroemer. Zumal eine Verordnung der Europäischen Union seit dem Jahr 2000 die Zulassung eines Medikaments für eine seltene Erkrankung in Europa vereinfacht, unter anderem einen längeren Patentschutz gewährt. Und damit Pharmafirmen animieren soll, nach neuen Wirkstoffen zu suchen.

Darauf mussten die Mediziner an der Uniklinik in Löwen nicht warten. Sie wussten nun, dass bei Familie Drost ein bestimmter Botenstoff des Immunsystems verrückt spielt. Und testen seit April in einer Studie mit Familie Drost einen Antikörper, der den Botenstoff abfängt und bereits für entzündliche Gelenkerkrankungen zugelassen ist. Einem Patienten in England mit der gleichen Erkrankung wie Familie Drost ging es nach der Therapie viel besser.

* alle Patientennamen geändert

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