Schwangerschaft und medizinischer Fortschritt:In schuldiger Erwartung

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In den 1970er-Jahren galt es als verantwortungsvoll, auch behindertem Leben eine Chance zu geben. Heute gilt als verantwortungslos und schuldig, wer in der Schwangerschaft nicht alle medizinischen Möglichkeiten mitnimmt. Warum wir dringend eine Debatte über die Folgen des Fortschritts brauchen.

Ein Gastbeitrag von Jana Wolff

Janna Wolff, 41, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Politikwissenschaften der Universität Bremen. Sie arbeitet am Forschungsprojekt: "Körperpolitik - politische Steuerung von Leben und Tod". (Foto: oh)

Berichte über die Folgen des medizinisch-technischen Fortschritts bei der menschlichen Reproduktion füllen heutzutage Zeitungsseiten. Neue Methoden der Pränataldiagnostik, In-Vitro-Befruchtungen, Social Freezing - all dies suggeriert den Frauen die Möglichkeit fast grenzenloser Autonomie der eigenen Familien- und Lebensplanung.

Doch unabhängig von jeder Debatte über Ethik: Was hier als Selbstbestimmung verkauft wird, kommt bei näherer Betrachtung einer zunehmenden Individualisierung und Ökonomisierung der Abwägung von Risiken gleich; in ihrer Folge führt diese Entwicklung eben nicht zur Emanzipation, sie nötigt vielmehr Menschen zu Entscheidungen, deren Konsequenzen für sie oft nicht transparent sind. In diesen unterschiedlichen Sachverhalten dominiert das Spiel mit der Angst und der angeblichen Eigenverantwortung die Wahl der Handlungsoptionen. Dabei sind die Interaktionen geprägt durch ein steigendes Machtgefälle unter den Beteiligten und durch gesellschaftliche Entsolidarisierung, deren Leidtragende mehrheitlich Frau sind.

Der Wunsch nach einem gesunden Kind war schon immer da; eine Garantie hierfür gab und gibt es nie. Entsprechend war ein wesentliches Ziel der Pränataldiagnostik von Beginn an, die Angst vor einem behinderten Kind zu mindern. Absurderweise stieg diese Angst jedoch, je präziser die Diagnosen wurden. Inzwischen wird jede Abweichung von der normierten Entwicklung zeitnah konstatiert. Das konfrontiert die werdenden Eltern mit einer derartigen Flut von Informationen und Entscheidungspunkten, dass Giovanni Moro von einem "Abschied von der freudigen Erwartung" spricht. Die Freude weicht dabei der Angst, einer Angst nicht vor dem Schicksal, sondern vor eigenem Fehlverhalten. Dies führt dazu, dass werdende Eltern fast selbstverständlich pränataldiagnostische Angebote wahrnehmen.

Die Akzeptanz solcher Maßnahmen wird von den Krankenkassen aktiv gefördert, etwa durch die automatische Übernahme der Kosten bei Schwangeren über 35 Jahren (also bei sogenannten Risikoschwangerschaften). Während Krankenkassen hierbei vor allem mögliche Folgekosten im Blick haben, sind die marketingstarken Wirtschaftsunternehmen am Absatz ihrer in diesem Zusammenhang verwendbaren Produkte interessiert.

Interessen bestimmen auch ein anderes Thema, bei dem es nicht um die Qualität des Nachwuchses geht, sondern um den richtigen Zeitpunkt der Geburt. Durch das Einfrieren ihrer Eizellen soll es jungen Frauen ermöglicht werden, beruflich mit Männern mitzuhalten und die eigene Familie unabhängig von Zeit und Alter zu planen. Den Spagat zwischen Familie und Karriere nicht zu schaffen, der kinderlosen Konkurrenz gegenüber benachteiligt zu sein - diese Angst löst sich dank dieser neuen Option der Selbstbestimmung angeblich auf. Durch das teilweise bereits von "arbeitnehmerinnenfreundlichen" Arbeitgebern finanzierte sogenannte Social Freezing, liegt die Entscheidung nun bei den Frauen, ob sie ihre "besten Jahre" den Kindern oder der Karriere widmen. Dies sei ein großer Schritt in Richtung Emanzipation, so heißt es.

Was ist diesen beiden Entwicklungen gemein? Es ist die Verknüpfung mit der großen Schwester der Angst, der Verantwortung. Allerdings hat sich die Konzeptualisierung von Verantwortung in Bezug auf Schwangerschaften in den vergangenen Jahrzehnten fundamental gewandelt: In den 1970er-Jahren galt es als verantwortungsvoll, auch behindertem Leben eine Chance zu geben. Frauen und Eltern taten dies in dem Vertrauen darauf, dass ihre - natürlich meist nicht bewusst getroffene - Entscheidung durch gesellschaftliche Solidarität unterstützt würde. Die Stärke einer Gesellschaft zeige sich im Umgang mit den Schwächsten, so hieß es damals.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gelten aber eben solche Entscheidungen als verantwortungslos, ja sogar als eine Zumutung. Hier zeigen sich ein schleichender Verantwortungstransfer sowie ein grundsätzlicher Wandel hin zur Selbstoptimierung.

Ist das Kind nicht gesund, hat die Mutter sicher nicht alle Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch genommen. Ein Kind mit Down-Syndrom? Das muss man sich - und der Gesellschaft! - heutzutage doch nicht mehr antun, so sagt man. Welche Folgen diese Einstellungen haben, wird kaum thematisiert. Dass durch diese Tests eine gesellschaftliche Minderheit perspektivisch ausgelöscht wird, ist nur wenigen bewusst.

Auch durch das Social Freezing wird Entsolidarisierung tendenziell gefördert, und die Tests klären eine weitere Schuldfrage. Wer als Frau bis Mitte 40 keine Karriere geschafft hat, ist selber schuld, denn: Die Bedingungen waren optimal! Vorausgesetzt wird dabei, dass ein bislang unerfüllter Wunsch der Frauen lautet, ihre "besten Jahre" in berufliche Erfolge zu investieren, und die zweitbesten Jahre für die Familie aufzusparen.

Die Gleichzeitigkeit von Karriere und Kind wird dabei, wie gehabt, ausgeschlossen, Ungleichheiten werden weiter verfestigt statt beseitigt. Der Kinder-Karriereknick wird so zwar verschoben, aber spätestens vor der Menopause ereilt er die selbstbestimmte Frau dann doch. Und was bislang noch gar nicht in den Feuilletons bemerkt wurde: Mit wem werden denn diese Frauen "jenseits ihrer besten Jahre" Kinder bekommen? Welcher Mann in wiederum "seinen besten Jahren" entscheidet sich für eine Mittvierzigerin als Mutter seiner Kinder?

Zumindest in diesem Punkt bemüht sich der Staat bei In-Vitro-Befruchtungen um Vorkehrungen: Das Bundessozialgericht bestätigte kürzlich, dass Krankenkassen die hieraus entstehenden Kosten weiterhin nur dann bezuschussen dürfen, wenn die Frau verheiratet ist. "Absicherung" wird hier als Kernargument angeführt. Der "Zwang in die Abhängigkeit", könnte eine alternative extreme Lesart sein. Denn hier ist die bei den anderen Beispielen so hoch gehaltene Selbstbestimmung der Frau plötzlich nicht mehr relevant. Eine eigenständige Entscheidung für ein Kind mit oder ohne einen festen Lebenspartner oder gar einer Lebenspartnerin? Auf gar keinen Fall.

So gerechtfertigt jede individuelle Entscheidung auch sein mag, es geht hier um uns als Gesellschaft: An welchen Leitbildern wollen wir unser Zusammenleben künftig orientieren? Welche Rolle kommt dem Staat dabei zu? Zeigt sich unsere Stärke weiterhin im Umgang mit den Schwächsten oder lassen wir unser Verhalten durch die Möglichkeiten des technischen Fortschritts bestimmen, mit dem Fokus auf das vermeintlich Beste?

Eine Grundsatzdebatte ist nötig. Jetzt.

© SZ vom 10.02.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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