Schlafforschung:Werden Schlafstörungen überschätzt?

Schlaf beim Naturvolk der Hadza

Der Schlaf ist beim Volk der Hadza eine sehr individuelle Angelegenheit.

(Foto: David Samson)

Forscher haben die Nachtruhe eines Naturvolks in Tansania beobachtet. Der Schlaf war längst nicht so störungsfrei wie der, den wir als natürlich erachten.

Von Werner Bartens

Was für ein Anspruch! Unter Termindruck, nach Fernsehkrimi und beruflichen Mails bis kurz vor Mitternacht möge dann, bitte schön, sofort der selige Schlummer einsetzen. Sieben Stunden Nachtschlaf sollten es schon sein, natürlich durchgehend, sodass die fasertiefe Müdigkeit einer vitalen Frische am Morgen weicht, schöne Träume inklusive. Unterbrechungen sind nicht vorgesehen, wer sich rastlos auf der Matratze wälzt oder gar mehrmals aufwacht, bei dem muss ja etwas nicht stimmen, oder? Erst im Frühjahr hat die Erhebung einer großen Krankenkasse ergeben, dass fast 80 Prozent der Erwachsenen in Deutschland angeben, unter Schlafstörungen zu leiden, etwa zehn Prozent sind demnach gar von der als Insomnie bezeichneten chronischen Schlaflosigkeit betroffen.

Vielleicht sind die Erwartungen einfach zu groß. Schließlich kommt es doch fast einem Wunder gleich, dass der gestresste Weltbürger trotz Ehekrach und Jobkrise überhaupt so oft ziemlich schnell in den Schlaf findet, von jetzt auf gleich wegdämmert und alles auf null stellt. Außerdem ist es aus evolutionärer Sicht womöglich sogar sinnvoll, dass der Schlaf immer wieder unterbrochen wird. Zu diesem Ergebnis kommen Anthropologen im Fachmagazin Proceedings of the Royal Society B. Die Forscher um Charles Nunn von der Duke University in Durham hatten das Volk der Hadza im Norden Tansanias untersucht und dabei sehr unterschiedliche Schlafzeiten beobachtet. Der Stamm lebt traditionell in Gruppen von 20 bis 30 Mitgliedern, die noch als Jäger und Sammler unterwegs sind.

Im Volk der Hadza ist fast immer jemand wach. Das dient der Sicherheit aller

Im Mittel gingen die Hadza gegen 22 Uhr ins Bett und wachten gegen sieben auf. Ihr Schlafverhalten war allerdings ziemlich unterschiedlich und hatte sich innerhalb der Gruppe nicht synchronisiert, wie es bei Völkern, deren Schlaf nicht durch Technik und Straßenbeleuchtung beeinflusst wird, gelegentlich vermutet wird. Einige der Hadza schliefen zunächst tief und fest für ein paar Stunden, andere wachten schon bald nach dem Einschlafen wieder auf und verließen sogar kurz ihr Lager. Manche legten sich früh hin, andere viel später. Während der gesamten Nachtzeit gab es nur wenige Episoden von gerade mal einer Minute Dauer, in der alle Mitglieder der Gruppe gleichzeitig schliefen. Ansonsten war zu jedem Zeitpunkt der Nacht etwa ein Drittel der Teilnehmer aktiv oder schlief nur oberflächlich.

"Gerade ältere Menschen klagen oft darüber, dass sie in der Nacht immer wieder aufwachen und nicht mehr einschlafen können", sagt Charles Nunn. "Vielleicht sollten wir das nicht gleich als Schlafstörung betrachten, sondern als Überbleibsel aus einer früheren Phase unserer Evolution, in der dieses Verhalten von Vorteil war." Schlafen alle Mitglieder einer Gruppe, ist das Risiko schließlich weitaus größer, Opfer von Raubtieren oder Überfällen zu werden. Auch von manchen in Gruppen lebenden Tierarten ist bekannt, dass einige nachts wach bleiben müssen, um frühzeitig Gefahren melden zu können. Diese Art von Nachtwächtern hat sich in der Wildnis bewährt.

Für die Hadza ist es gar nicht nötig, jemanden nachts zur Wache abzustellen, weil sowieso immer jemand wach ist. Zudem bleiben die Jungen lange auf und die Alten sind früh wieder auf den Beinen. Haben die Großeltern einen zeitlich vorgeschobenen, kürzeren und unterbrochenen Schlaf, vergrößert das die Sicherheit. Große Unterschiede im Schlaf-Wach-Rhythmus bieten daher einen Überlebensvorteil, der aber nur in Gruppen ab zwölf Personen funktioniert. Das Volk der San im südlichen Afrika ist beispielsweise meist zu dritt unterwegs, dann muss nachts im Wechsel Wache gehalten werden.

Für die einzeln oder in Kleinfamilien lebenden Bewohner der Industrienationen ist der evolutionäre Vorteil der Ahnen oder afrikanischer Stammesgruppen hingegen nur ein schwacher Trost, wenn sie sich ruhelos von einer Seite auf die andere drehen. Statt vom "Vorteil der schlecht schlafenden Großeltern" zu reden, wie die Anthropologen um Charles Nunn, wird die Diagnose der "erschöpften Gesellschaft" gestellt, die sich mit Tranquilizern ruhigstellt und auch tagsüber kaum wach wird. Dabei täuscht der Eindruck meist, die ganze Nacht kein Auge zugemacht zu haben. Wer meint, kaum geschlafen zu haben und immer wieder aufgewacht zu sein, kommt tatsächlich oft auf eine Netto-Schlafdauer von fünfeinhalb oder sechs statt der empfohlenen sieben Stunden. Das "stundenlange" Wachliegen erstreckt sich dann gerade mal über zwei- oder dreimal 20 Minuten.

Immer wieder auf die Uhr zu schauen, ist in unruhigen Nächten übrigens kein guter Rat. Dadurch verstärkt sich der Druck, endlich einschlafen zu müssen. Ob man sich nach einer Nacht mit mehreren Unterbrechungen morgens erstaunlich fit fühlt oder das bleierne Gefühl bis zum Nachmittag mitschleppt, hängt davon ab, in welcher Phase man wach geworden ist. Durch Babygeschrei oder Baulärm aus dem Tiefschlaf gerissen zu werden, kann den ganzen Tag lähmen. Fiel die Störung hingegen in eine Phase oberflächlichen Schlafs, ist die Leistungsfähigkeit kaum beeinträchtigt.

Dass in altgedienten Beziehungen Männer zumeist die gemeinsame Schlafstätte bevorzugen, während Frauen mit getrennten Schlafzimmern liebäugeln, hat ebenfalls evolutionäre Gründe. Im Manne wirkt der Beschützerinstinkt der Urahnen nach, er muss Frau und Höhle vor Eindringlingen bewahren. Die Frau sollte ihm das nicht verübeln. Er folgt lediglich der Biologie und sichert den Überlebensvorteil der Partnerschaft.

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