Süddeutsche Zeitung

Scheinbehandlungen:Placebos wirken auch jenseits bewusster Erwartungen

Wissenschaftler glaubten bislang, dass der Placebo-Effekt durch eine Erwartungshaltung geprägt wird. Forscher aus Harvard haben nun gezeigt, dass sich die Wirkungen offenbar auch unbewusst aktivieren lassen.

Werner Bartens

Hoffnung, Zuversicht und positive Erwartungen sind machtvolle Therapeutika in der Hausapotheke der Medizin. Sie können den Behandlungserfolg erheblich steigern. Gute Ärzte versuchen diese Ressourcen der Patienten zu aktivieren; nach der Medikamentengabe aber auch im zugewandten Gespräch verstärkt der Placeboeffekt die erwünschte Wirkung und trägt so zur Genesung oder Schmerzlinderung bei.

Für negative Gefühle und Erwartungen gilt umgekehrt das Gleiche: Wer nicht damit rechnet, dass ihm eine Tablette oder Infusion hilft oder gar vermutet, dass die Krankheit sowieso den schlimmsten Verlauf nimmt, der hat oft auch schlechtere Aussichten auf Heilung und einen geringeren Therapieerfolg, wofür Forscher den Begriff Nocebo-Effekt verwenden.

Ärzte und Wissenschaftler hielten den Placebo- wie den Nocebo-Effekt bisher für einen Vorgang, der durch die Erwartungshaltung geprägt wird und - davon abhängig - positiv oder negativ ausfällt. Ein Team um Karin Jensen zeigt nun im Fachblatt PNAS (online) vom heutigen Dienstag, dass sich beide Wirkungen offenbar auch unbewusst aktivieren lassen. "Man kann eine Placebo- oder Nocebo-Antwort auslösen, auch wenn Probanden weder bewusst ist, dass eine Verbesserung der Situation in Aussicht gestellt wurde, noch dass es schlechter gehen würde", sagt Jensen.

Die Placebo-Forscher von der Harvard Universität haben einen komplexen Versuchsaufbau gewählt. In einer ersten Versuchsreihe wurden Freiwilligen Hitzereize am Arm zugefügt, deren Intensität sie bewerten mussten. Gleichzeitig sahen sie auf einem Bildschirm das Gesicht eines Menschen, der entweder kaum oder aber starke Schmerzen ertragen musste. Obwohl den Freiwilligen immer ein gleich starker Hitzereiz beigebracht wurde, gaben sie auf einer Skala von 0 bis 100 im Durchschnitt eine Schmerzintensität von 24 an, wenn sie das Gesicht sahen, das kaum Schmerzen ausdrückte. Erblickten sie auf dem Bildschirm das schmerzverzerrte Gesicht, betrug der Wert hingegen 63.

Die zweite Versuchsreihe verlief fast identisch. Wiederum wurden die Schmerzreize in gleicher Stärke appliziert, doch diesmal waren die parallel dazu gezeigten Gesichter nur für zwölf Millisekunden zu sehen. In dieser kurzen Zeitspanne war es unmöglich zu erkennen, ob sie starken oder keinen Schmerz ausdrückten. Trotzdem bewerteten die Probanden die Hitzereize mit einer Intensität von 21, wenn das schmerzfreie Gesicht auftauchte und mit 52 beim schmerzverzerrten Antlitz.

"Nicht das passiert, was Patienten denken oder erwarten, sondern das, was das Unterbewusstsein antizipiert", sagt Ted Kaptchuk, Leiter der Placebo-Arbeitsgruppe an der Universität Harvard. "Dieser Mechanismus ist schnell, automatisiert und stark und hängt nicht von eigenen Urteilen ab. Für das Verständnis von Placebos und den Ritualen der Medizin eröffnen unsere Ergebnisse ganz neue Einsichten." Eindrücke der Erleichterung wie der Bedrohung werden häufig aufgenommen und neuronal verarbeitet, ohne dass sie ins Bewusstsein gelangen; ein Vorgang, für den der Psychologe John Kihlstrom von der Universität Berkeley den Ausdruck des "kognitiv Unbewussten" geprägt hat.

Jensen und ihr Team plädieren dafür, mehr darauf zu achten, welche unbewussten Umgebungsreize während Krankenversorgung und Therapie auch auf Patienten einwirken. Offenbar sind es nicht nur explizite Signale - wie die Art der Patientenansprache - die darüber entscheiden, ob eine Therapie gut anschlägt oder wirkungslos verpufft.

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Quelle:
SZ vom 11.09.2012/beu
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