Wie sich ein Baby entwickelt:Riesenschritte im ersten Jahr
Wann lächelt das Baby seine Eltern zum ersten Mal an? Wann kann es Brei essen? In seinem ersten Jahr entwickelt sich ein Kind vom meist schlafenden Säugling zu einer kleinen Persönlichkeit. Erfahren Sie mehr in unserem interaktivem Baby-Kalender.
Die kleine Sarah sitzt auf dem Töpfchen. Dabei ist "Sitzen" eigentlich zu viel gesagt. Das kann Sarah nämlich noch gar nicht. Sie ist ein Baby und erst wenige Monate alt - ihre Mutter muss sie auf dem Töpfchen festhalten. Auch der Vater ist mit Sarahs Geschäft beschäftigt: Er filmt die Angelegenheit minutenlang und sagt immer wieder: "Ich glaube, sie ist fertig." Zum Schluss ein Zoom ins Töpfchen: Sarah hat nun tatsächlich ein großes Geschäft gemacht. Was anderen Kindern erst mit zwei oder drei Jahren gelingt, meistert Sarah schon im Babyalter.
Sarahs Eltern gehören einer Bewegung an, die ihren Nachwuchs ohne Windeln aufziehen will. Andere Eltern, deren Kinder auch mit drei Jahren nur Pipi aufs Töpfchen machen und noch mit vier nachts eine Windel brauchen, mag das erstaunen. Doch grundsätzlich funktioniert das Leben ohne Pampers, wenn Eltern und Babys sich in "Ausscheidungskommunikation" üben, wie die Methode heißt.
Im Englischen spricht man von "Elimination Communication" (EC). Die Eltern nutzen dabei Signale ihres Kindes: Sie achten auf Grimassen oder Bewegungen, die das Baby kurz vor Wasserlassen oder Stuhlgang vollführt, und halten es dann schnell über Töpfchen oder Grünstreifen. Jeden Toilettengang - bei Säuglingen bis zum sechsten Monat sind das rund 20 pro Tag - begleiten Windelfrei-Eltern mit einem Schlüssellaut.
"Artgerechtes Großwerden"
So konditionieren sie ihr Kind: Nach einiger Zeit reagieren die Babys auf diesen Laut, die Eltern können sie in regelmäßigen Abständen zum Wasserlassen animieren und sich unangenehme Situationen etwa in der U-Bahn ersparen. Zudem führen die Eltern über Essen, Schlafen und Entleeren Buch, um Regelmäßigkeiten herauszufiltern und nassen Hosen vorzubeugen.
Diese Art des Großwerdens sei besonders "artgerecht", meinen die Journalistinnen Nicola Schmidt und Julia Dibbern, die das "Projekt Artgerecht" im Internet erklären. "Babys sind von Geburt an ,dicht'. Wann Kinder sauber werden können, hat mehr mit der Überzeugung der Eltern zu tun als mit den Kindern."
Zweifelsohne haben auch Naturvölker keine auslaufsicheren Pampers, und weltweit ist jedes zweite Kind vor dem ersten Lebensjahr sauber, denn Windeln sind in Afrika, Asien, Lateinamerika und auch in Osteuropa nicht der Regelfall. Das Gerede von der körperlichen Reife, die vorhanden sein müsse, bevor ein Kind sauber werden könne, sei Unsinn, meinen Schmidt und Dibbern.
Auch in der Fachliteratur wird immer wieder bestätigt, dass Neugeborene mit Zappeln, Zittern, einem kurzen Schrei oder Gesicht-Verziehen anzeigen, dass sie müssen. Wenn Eltern nicht auf diese Signale reagieren, dann verlieren sie sich jedoch. Jahre später muss das Kind dann üben, auf die Signale seines Körpers zu reagieren.
Zahlreiche Bücher und Blogs gibt es inzwischen zum Thema EC. In einigen Städten erklären Windelfrei-Coaches, wie das Ganze funktioniert. Manche Verfechter der Methode sind der Ansicht, nur das windellose Aufziehen ermögliche einen respektvollen Umgang mit dem Baby, der sich an den Bedürfnissen des Kindes und nicht der Eltern orientiere.
Andere Eltern machen mit, weil sie die Müllberge verkleinern wollen - schließlich verbraucht ein Wickelkind rund 5000 Windeln (und 1000 bis 2000 Euro), bis es sauber ist. "Pampers hat jetzt Windeln für Fünfjährige herausgebracht, weil immer mehr Kinder nachts immer später trocken werden", schreiben Schmidt und Dibbern.
Sauberkeitserziehung im Wandel
Aber wann ist wirklich die beste Zeit für das Kind, auf Windeln zu verzichten? "Es gibt kaum fundierte Studien dazu", sagt Klaus Rodens von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Die heutigen Empfehlungen stützen sich meist auf die Untersuchungen von Remo Largo, der bis 2005 an der Zürcher Universitätsklinik geforscht hat.
Der durch seine Bücher bekannte Kinderarzt hatte 700 Personen viele Jahre lang beobachtet, die entweder in den 1950er-Jahren oder zwischen 1974 und 1984 geboren worden waren.
In der Nachkriegszeit waren Eltern meist sehr rigide, sie setzten die Kinder mehrmals täglich aufs Töpfchen. Dort mussten sie sitzen, bis sie gemacht hatten. Schließlich war eine lange Windelphase gleichbedeutend mit viel Zeit in der Waschküche. So hatten in Largos Studie 96 Prozent der Eltern der Nachkriegsgeneration zum Ende des ersten Lebensjahres bereits mit der Sauberkeitserziehung begonnen, in den liberalen 1970er-Jahren waren es nur rund 20 Prozent der Eltern.
Insgesamt begann das Töpfchentraining 13 Monate später als noch eine Generation davor, Mädchen waren etwas schneller sauber als Jungs.
Das Erstaunliche aber war: Frühes Training führte nicht zu früherem Trockensein. Fast alle Kinder konnten erst im Laufe des vierten Lebensjahres Darm und Blase so kontrollieren, dass sie tagsüber und nachts ohne Windeln auskamen. "Die Entwicklung der Blasen- und Darmkontrolle ist ein Reifeprozess, der nicht beschleunigt werden kann, indem das Kind besonders früh oder oft auf den Topf gesetzt wird", schließt Largo aus seinen Arbeiten.
Zeitiges Training hatte aber auch keine negativen Folgen. Die Sorge progressiver Eltern in den 1970er-Jahren, übereiltes Sauberkeitstraining führe zu sexueller Verklemmtheit, erwies sich als unbegründet. So lautet heute der Rat an Eltern: Warten Sie darauf, dass sich das Kind für das Töpfchen interessiert. Das tut es meist Ende des zweiten Lebensjahres.
"Damit das Kind selbständig wird, braucht es dann aber das Vorbild und die Unterstützung der Eltern", betont Largo. Wer diese Bereitschaftssignale des Kindes übersehe, könnte Probleme mit dem Abgewöhnen der Windel bekommen.
Doch wie passen Largos Forschungsergebnisse mit der Tatsache zusammen, dass in vielen traditionellen Kulturen Babys zumindest im Nahbereich der Eltern etwa mit sechs bis zwölf Monaten sauber sind? "Das heißt ja nicht, dass diese Kinder ihre Ausscheidungen beliebig kontrollieren können", erklärt der Kinderarzt Herbert Renz-Polster in seinem Buch "Kinder verstehen". "Vielmehr können sie im Zusammenspiel mit einer engen Bezugsperson lernen, ihre Ausscheidungen zuverlässig anzuzeigen, ein längeres Aufschieben ist dagegen nicht möglich."
"Es gibt keine beste Methode"
Welche Art des Großwerdens die beste für die seelische und körperliche Gesundheit des Kindes ist, ist ungeklärt. "Es gibt keine beste Methode", sagt Alexandra Vermandel, Urologin an der Universität Antwerpen. "Aber jedes Toilettentraining sollte mit Belohnung, Lob und Warmherzigkeit arbeiten." Fehlt es hingegen an Unterstützung, wird Druck ausgeübt oder werden Misserfolge bestraft, dann kann das dazu führen, dass Kinder ihren Stuhl zurückhalten, einnässen oder einkoten.
Eine sehr spät begonnene Sauberkeitserziehung erhöhe zudem das Risiko für Blasenentzündungen und Bettnässen, arbeitete Darcie Kidoo, Urologin an der University of Alberta, in einem Übersichtsartikel 2012 heraus. Zweifelsohne sei ein wunder Po bei EC-Kindern wohl kein Thema, fügt Klaus Rodens hinzu.
Das Leben junger Eltern hierzulande unterscheidet sich allerdings fundamental von dem der Naturvölker. Kinder werden nicht ständig am Körper getragen, sie haben nicht wie in Asien Schlitzhosen, die ein schnelles Entleeren ermöglichen, und sie werden oft fremdbetreut. "Unter den gegebenen baulichen und klimatischen Verhältnissen kann das windellose Erziehen zu einem riesigen Stress ausarten", sagt Renz-Polster. Das sei "sicherlich kein Schmiermittel für die Eltern-Kind-Beziehung".
Der Kinderarzt Rodens formuliert es drastischer: "Wie sich die Eltern auf die Ausscheidung ihres Kindes fixieren, ist schlimm. Diese Innigkeit zwischen Eltern und Kind ist fast schon neurotisch."
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