Lange war darauf gewartet worden: Nun hat die Ständige Impfkommission (Stiko) ihre Empfehlung vorgelegt, wie Säuglinge vor dem gefährlichen Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) geschützt werden sollen. Demnach sollen nun alle Babys in ihrem ersten Lebensjahr den monoklonalen Antikörper Nirsevimab (Handelsname: Beyfortus) erhalten.
Etwa 50 bis 70 Prozent aller Säuglinge machen der Stiko zufolge mindestens eine RSV-Infektion in ihrem ersten Lebensjahr durch. Bis Ende des zweiten Jahres ist praktisch jedes Kind dem Erreger zumindest einmal begegnet. In den meisten Fällen müssen die Kleinen mit Beschwerden rechnen, wie sie für grippale Infekte typisch sind. Doch bei etwa zehn Prozent aller Kinder verbreitet sich das Virus auch in den unteren Atemwegen und löst dort Entzündungen der Lungen oder eines Teils der Bronchien aus. Etwa zwei Prozent von ihnen müssen im Krankenhaus behandelt werden, sagte der Kinderarzt Johannes Liese auf einer Pressekonferenz des deutschen Science Media Centers. Liese leitet die pädiatrischen Infektiologie am Universitätsklinikum Würzburg und ist externer Berater der Stiko.
RSV ist damit die häufigste Ursache für Krankenhausbehandlungen von Säuglingen. Es trägt zudem laut Liese dazu bei, dass das Gesundheitssystem in den Wintermonaten an die Grenze der Belastungsfähigkeit kommen kann. Diese Last für Familien, Praxen und Kliniken soll nun Nirsevimab abfedern.
Der Haken: Der Schutz hält nicht lange an
Die Stiko empfiehlt es daher allen Kindern, denen ihre erste RSV-Saison bevorsteht. Sie dauert typischerweise von Oktober bis März. Kinder, die während dieser Zeit geboren werden, sollen die Prophylaxe möglichst schnell nach der Entbindung – also in vielen Fällen noch in der Geburtsklinik – bekommen. Für alle anderen unter Einjährigen empfehlt die Stiko, dass sie das Mittel im Herbst, vor Beginn der typischen Saison, erhalten.
Für die Immunisierung ist nur eine Spritze in den Oberschenkel nötig. Als Nebenwirkungen wurden überwiegend Schwellungen und Schmerzen an der Injektionsstelle berichtet, sagt Julia Tabatabai, Ärztin am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Heidelberg und Mitglied der Stiko. In extrem seltenen Fällen seien Unverträglichkeitsreaktionen aufgetreten. Insgesamt hält die Stiko den Antikörper für ebenso sicher wie andere im Säuglingsalter verabreichte Impfungen.

Die Säuglinge dürften nach der Spritze zunächst recht gut geschützt sein. Die Ergebnisse der Zulassungsstudien wie auch erster Anwendungsdaten aus einigen Ländern lassen eine Wirksamkeit gegen leichte wie schwere Verläufe von etwa 70 bis 80 Prozent erwarten. Doch einen großen Haken hat das Produkt: Sein Schutz hält nur wenige Monate an. Nach drei Monaten hat sich die Konzentration der Antikörper halbiert, danach sinkt sie weiter, sagt Julia Tabatabai. Das genügt den bisherigen Erkenntnissen zufolge, um eine etwa 75-prozentige Wirksamkeit bis zum Ende der Saison zu erhalten. Doch was passiert danach? Treten dann womöglich mehr schwerere Erkrankungen im zweiten Lebensjahr auf?
„Das ist die Gretchenfrage“, sagt Johannes Liese. Die Erfahrung zeigt, dass Kinder im zweiten Lebensjahr besser mit dem Erreger zurechtkommen. Dennoch gebe es auch in dieser Altersgruppe noch relativ viele schwerere Verläufe. Das Problem sei also nicht ganz gelöst, sagte Liese. Andererseits sei er schon froh, dass zunächst einmal die Säuglinge eine Präventionsmöglichkeit haben, für die die Gefahr am größten ist.
Das Vakzin für Schwangere wird vorerst nicht empfohlen
Die Verabreichung von Antikörpern wird als passive Immunisierung bezeichnet und ist – wie das Beispiel Nirsevimab zeigt – nicht die Ideallösung. Experten bevorzugen die aktive Immunisierung, bei der das Immunsystem mit dem Erreger oder Teilen davon konfrontiert wird und lernt, selbst passende Antikörper zu bilden. Das derart trainierte Immunsystem ist dann gegen neue Begegnungen mit dem Krankheitskeim gewappnet – und dies meist für lange Zeiträume. Mit Nirsevimab wurde nun erstmals eine passive Immunisierung für alle Babys empfohlen, da es bisher keinen traditionellen Kinder-Impfstoff gibt.
Was es allerdings gibt, ist ein Vakzin, das Schwangeren verabreicht wird, damit sie die schützenden Antikörper an ihre Kinder weitergeben. Das von Pfizer hergestellte Produkt namens Abrysvo ist seit Sommer vergangenen Jahres in der EU zugelassen. Dennoch empfiehlt die Stiko seinen Einsatz zunächst nicht. Das Gremium hält die bisherigen Daten nicht für ausreichend, um Effektivität und Sicherheit des Impfstoffs abschließend zu bewerten. In den Zulassungsstudien hatten etwas mehr Frauen eine Frühgeburt erlitten, als man erwarten würde. Deren Zahl war nur gering und kann auch auf Zufall zurückzuführen sein. Doch es gibt ein weiteres potenzielles Gefahrensignal. Ein sehr ähnlicher Impfstoffkandidat des Konkurrenten GSK hatte in Studien zu einer signifikant erhöhten Zahl an Frühgeburten geführt. GSK hatte seine Tests daraufhin abgebrochen.

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Insgesamt hatte sich die Stiko mit ihrer Empfehlung zum RSV-Schutz relativ viel Zeit gelassen. Nirsevimab ist bereits seit Ende 2022 zugelassen. Doch aufgrund der fehlenden Stiko-Entscheidung kam es in der zurückliegenden Saison noch kaum zum Einsatz. Auf der Pressekonferenz begründete Liese die lange Bedenkzeit zum einen damit, dass im vergangenen Jahr noch zu viele Fragen offen gewesen seien. Mittlerweile lägen Erkenntnisse aus ersten Ländern vor, die den Antikörper bereits eingesetzt und damit die Daten aus den Zugangsstudien bestätigt hatten. Es gebe damit mehr Sicherheit, die auch dazu beitragen solle, die Akzeptanz der Empfehlung zu erhöhen.
Zudem sei das Produkt im vergangenen Jahr noch sehr viel teurer gewesen. Man habe mit 1300 Euro pro Injektion rechnen müssen. „Das liegt bei Weitem über dem, was wir sonst an Kosten für Impfung aufwenden“, sagte Liese. Mittlerweile gehe er von 450 Euro pro Injektion aus. Damit bewege man sich im Bereich der üblichen Kosten für Säuglings-Impfungen.
Unterstützt wurde die Entscheidung durch Modellrechnungen des Robert-Koch-Instituts (RKI). Denen zufolge kann mit der Immunisierung von drei Kindern eine RSV-Erkrankung verhindert werden. Um eine Krankenhauseinweisung zu vermeiden, müssen rechnerisch 43 Säuglinge immunisiert werden. Pro 134 000 Antikörper-Verabreichung wird ein Todesfall verhindert.
Mit Nirsevimab wird praktisch der Antikörper Palivizumab obsolet, der bisher Kindern mit sehr hohem Risiko für schwere Verläufe verabreicht wurde. Er hat den Nachteil, dass den Babys fünf Spritzen verabreicht werden müssen. Nun sollen auch die Hochrisiko-Kinder, also beispielsweise Frühchen oder Kinder mit angeborenem Herzfehler, mit Nirsevimab geschützt werden. Prinzipiell ist es laut Stiko-Empfehlung auch möglich, weiterhin Palivizumab zu verabreichen.