Psychotherapie:Die Heilkraft des Erzählens

Lesezeit: 7 min

Der Blick zurück auf die Strapazen der Flucht und das Warten auf das Ankommen können ein Trauma auslösen. (Foto: picture alliance / AP Photo)

Albträume, Flashbacks, Suizidgedanken - Opfer von Krieg und Folter leiden noch Jahre später an traumatischen Belastungen. Eine neue Erzähl-Therapie hilft bei der Heilung.

Von Werner Siefer, Konstanz

Der Horror ist im Kopf dieses Mädchens mit nach Konstanz gekommen. An den Bodensee, der an diesem Sonnentag besonders idyllisch zu ruhen scheint. Sie ist 16 Jahre alt und schmächtig. Sie trägt Jeans, T-Shirt und Turnschuhe. Ihre Haare sind schwarz und lang und ihre braunen Augen wach. Sie sitzt auf einem Sofa am Institut für Psychologie der Universität Konstanz und erzählt ihre Geschichte. Sie handelt von ihrer Zeit als Sklavin der Terrororganisation Islamischer Staat (IS), von Folter, Entwürdigung, Vergewaltigung und ihrer Befreiung.

"Wir mussten für die Terroristen kochen und putzen", sagt das Mädchen Aziza (Name geändert). "Wir wurden geschlagen, wenn wir etwas Falsches gemacht haben. Jeder der Terroristen durfte uns schlagen. Und täglich wurden wir von ihnen vergewaltigt." Sie spricht Arabisch, eine Dolmetscherin mit Kopftuch übersetzt ihre Worte flüssig ins Deutsche. Die Psychologin Eva Barnewitz würde sonst nicht verstehen, was das Mädchen zu erzählen hat.

Aziza gehört der Volksgruppe der Jesiden an und leidet seit ihren schrecklichen Erlebnissen im Irak an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Sie konnte nicht mehr schlafen, Alpträume quälten sie und mehrmals versuchte sie, sich umzubringen - auch als sie bereits in Deutschland war und damit längst in Sicherheit. Die Therapie bei den Konstanzer Psychologen soll ihr nun helfen, mit den schrecklichen Erlebnissen fertig zu werden. Dabei stützen sich die Trauma-Experten auf eine neue Form der Verhaltenstherapie: Die Patienten erzählen ganz einfach ihre Geschichte.

Studie über syrische Flüchtlinge
:Ein Drittel der Flüchtlingskinder ist psychisch krank

Krieg, Flucht und eine schlechte Versorgung in Deutschland können Spuren hinterlassen: Fast jedes vierte Flüchtlingskind hat eine Posttraumatische Belastungsstörung.

Von Berit Uhlmann

Von seinen Erlebnissen zu berichten, sich und seine Wertvorstellungen in der Welt und in der Gemeinschaft der anderen zu verorten hat etwas Heilendes. Das nutzte bereits Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse, der seinen Patienten mit der Macht des Zuhörens auf den Leib rückte. Vom Bedarf an der selbstheilenden Kraft des Erzählens zeugt auch die Flut an Autobiografien oder Blogs. Doch neuerdings hat die Methode der Narration auch unter Wissenschaftlern wieder Konjunktur - auch wegen ihrer enormen Wirksamkeit. Die Narrative Expositionstherapie - ein Verfahren, das eine Konstanzer Arbeitsgruppe um Maggie Schauer, Frank Neuner und Thomas Elbert entwickelte - ist nicht nur vergleichsweise einfach, sondern bestechend effektiv, wie zahlreiche Studien belegen konnten.

Blumen stehen für freudige Ereignisse, Steine für die schrecklichen Dinge

Bei 70 bis 80 Prozent der Patienten mit dem Vollbild einer PTBS sinken nach der Erzähltherapie die Symptome unterhalb die Diagnoseschwelle. Symptome wie Angst- und Depressionen gehen zurück, zwischenmenschliche Probleme werden weniger und die zuvor häufig eingeschränkte Lern- und Berufsfähigkeit erholt sich wieder. Bewährt hat sich die Erzähl-Behandlung selbst bei Opfern von Mehrfachtraumatisierung oder andauerndem Kindesmissbrauch, Folter, Vergewaltigung, Menschenhandel oder bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung.

Wer Schlimmes erlebt hat, den plagen die Erinnerungen daran oft ein ganzes Leben lang. In Europa sind das vermutlich rund zwei bis acht Prozent der Bevölkerung. Unter den Migranten, die seit dem Sommer 2015 Deutschland erreichten, vermutet Schauer um die 40 Prozent Therapiebedürftige. Verlässliche Studien zur Verbreitung liegen nicht vor, so dass Experten von einer hohen Dunkelziffer ausgehen. Hinzu kommt, dass viele - zum Beispiel Angehörige der deutschen Kriegsgeneration oder Unfallopfer - gar nicht wissen, dass sie zu den Betroffenen gehören. Oft halten die Opfer unvermittelt ins Bewusstsein schießende Schreckensbilder, andauernde Schlaflosigkeit, aber auch Veränderungen in Denken und Fühlen für völlig normal.

Den Beschwerden liegt eine Besonderheit des Gedächtnisses zu Grunde: Im Zustand größter Panik und Angst schießen die Stresshormone in die Höhe. Dann funktioniert das Einspeichern von Informationen nicht wie sonst. Der Traumatisierte hat Geräusche, Gerüche, Schmerzen oder die Schreckensbilder von Verletzung und Verstümmelung vor Augen. Erinnerungen an den Kontext, an Zeit und Raum gehen aber verloren. Dies hat zur Folge, dass sich traumatische Erlebnisse nicht in den Lebenslauf integrieren. Als wäre die Uhr ihres Lebens angehalten, durchleiden die Patienten die widerwärtigen Ereignisse jederzeit und immer wieder. "Der Schrecken fühlt sich real an, der Horror zieht in die Gegenwart ein", sagt Schauer. Harmlose Reize, ein Knall, Geschrei, ein rattender Traktor, Flugzeuglärm oder eine schlagende Tür können Panik-Attacken auslösen.

Das Sortieren beginnt bei der Narrativen Expositionstherapie (NET) mit dem Auslegen der Lebenslinie. An einer Schnur, die den Fortgang der Zeit symbolisieren soll, legt der Patient Blumen - sie stehen für freudige Geschehnisse - oder Steine aus, letztere symbolisieren Belastendes. Dies führt ihm vor Augen, dass das Leben auch gewinnbringende Episoden zu bieten hatte. Für Aziza war dies etwa ihre Kindheit in ihrem Heimatdorf. Sie wuchs mit ihren Eltern, fünf Brüdern und zwei Schwestern auf und nennt diese Zeit "wundervoll". Es war im August 2014, als die islamistischen Terroristen in das Dorf eindrangen, die Männer, darunter vier ihrer Brüder, sowie ihren Vater umbrachten, und die Frauen verschleppten. Die Geschichte handelt auch vom Untergang arabischer Kultur, wie sie Bachtyar Ali so bilderreich in seinem Buch "Der letzte Granatapfel" beschrieben hat.

Traumatisierte Schutzsuchende
:Therapeuten beklagen "beschämend schlechte" Versorgung von Flüchtlingen

Mindestens die Hälfte der Flüchtlinge leidet an einer psychischen Krankheit. Warum fast keiner von ihnen Aussicht auf umfassende Hilfe hat.

Von Berit Uhlmann

Den widerwärtigen und emotional besonders aufwühlenden Abschnitten, die Experten sprechen von heißen Erinnerungen, widmen die Therapeuten besondere Aufmerksamkeit. Der Patient berichtet von den Umständen, dem Wetter, Gerüchen, Stimmen, den Gesichtern der Menschen und nähert sich so dem Schrecken. Behutsam und mitfühlend, so fordern es die Entwickler der NET ausdrücklich, thematisiert der Behandler dabei dessen Gefühle und körperliche Reaktionen. "Spüren Sie die Beklemmung, ist Ihnen mulmig, schwitzen Sie jetzt?"

Nicht nur die verbale Erinnerung läuft während der Erzählung wie in einer Art Film ab - auch die körperlichen Reaktionen stellen sich nacheinander wieder ein, als würden die Momente erneut durchlitten: Wer vor Anstrengung schwitzen musste, dem wird Schweiß auf der Stirn stehen, wem die Angst Arme und Beine lähmte, wird sich wieder schwach fühlen. Für die Patienten sind dies die unangenehmsten Momente, denen sie am liebsten ausweichen möchten, indem sprachlos werden oder zum Ende springen. Die Therapeutin wird das verhindern und ihr Gegenüber langsam durch die entscheidenden Momente führen - was den Unterschied der NET zum freien Erzählen, etwa in Tagebüchern, Briefen oder Autobiografien ausmacht. Vor allem wird sie immer wieder daran erinnern, dass die Situation in der Erinnerung eine sichere ist. "Wie sah der Raum aus?", fragt Eva Barnewitz ihre jesidische Patientin, wenn sie von ihren Vergewaltigungen berichtet und ihr Blick ins Leere geht. Sie möchte, dass sie den Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart erkennt.

Nach und nach erstellt die Patientin in den Behandlungssitzungen im Dialog mit dem Gegenüber eine detaillierte schriftliche Narration ihrer Lebensereignisse. Bei älteren Menschen kommt es so zu einer Gesamtschau des eigenen Lebens, zum Erkennen von Mustern und Zusammenhängen, zu einer Würdigung der Person. Am Ende ist eine Biografie entstanden, die beide, Patient und Therapeut, unterschreiben.

Bei dem größten Teil der Patienten lassen etwa Albträume nach, bei Kindern bessern sich die Schulnoten, die Schmerzempfindlichkeit sinkt und das Immunsystem wird stärker. Betroffenen fällt es daneben leichter, sich wieder in der Gesellschaft und das Berufsleben zu integrieren. Auf diesem Weg befindet sich auch Aziza, die ihre Sitzungen mittlerweile abgeschlossen hat. "Ich habe mich durch die Therapie verändert", sagt sie. "Zum Beispiel konnte ich davor nicht schlafen. Jetzt habe ich zwar noch manchmal Albträume, aber ich schlafe besser. Vor der Therapie habe ich oft an Selbstmord gedacht, weil ich große Sehnsucht nach meiner Familie und meinen Freundinnen hatte. Jetzt habe ich diese Gedanken nicht mehr."

Erzählen verleiht Sinn und versöhnt mit erlittenem Leid - damit beschäftigt sich James Pennebaker an der University of Texas in Austin schon seit einigen Jahren. Der Psychologe und sein Team bitten Studenten üblicherweise zu einem mehrtägigen autobiografischen Experiment. Die Probanden, mittlerweile handelt es sich um Tausende, sollen an vier aufeinander folgenden Tagen über ihr Leben schreiben. Bei diesen Studien zeigte sich , wie sehr es hilft, sich erlebtes Unglück von der Seele zu reden. Wer schlimme Episoden erzählerisch verarbeitet, empfindet weniger Schmerz, nimmt weniger Arzneimittel ein und weist ein geringeres Risiko für eine Depression auf.

Pennebaker setzte bei seinen Analysen elektronische Worterfassungsprogramme ein und stieß so auf einige Gesetzmäßigkeiten, was den Stil heilender Geschichten angeht. Je mehr Probanden Wörter benutzten, die einen positiven emotionalen Zusammenhang herstellen, umso mehr verbesserte sich ihre Gesundheit (grob erfasst einfach anhand der Zahl der Arztbesuche im folgenden Jahr). Bei negativen Wörtern war der Zusammenhang etwas komplizierter. Nur ihr moderater Einsatz hatte den größten Rückgang bei den Arztbesuchen zur Folge. Als hinderlich für die Gesundung erwiesen sich sowohl das weitgehende Vermeiden als auch der übersteigerte Gebrauch negativer Wörter. Die Begründung, laut Pennebaker: Wer sich ständig mit belastenden Inhalten beschäftigt, steckt in Grübeleien fest, ohne einen Abschluss zu finden. Wer hingegen sehr wenige negative Wörter benutzt, zählt zu jenen Menschen, die negative Emotionen unterdrücken. Dabei ist das Leben manchmal eben bitter.

Die besonders wohltuende Erzähl-Mischung besteht laut Pennebaker aus vielen optimistischen und einer moderaten Menge negativer Wörter. Zudem ist es vorteilhaft, wenn die Zahl der Begriffe mit kausalen Bezügen während des Erzählens ansteigt. Am meisten profitierten jene, welche die Schreibübungen mit wenigen Kausalwörtern begonnen und mit vielen Kausalwörtern beendet hatten. "Dieses Muster zeigt an, dass die Probanden über die Tage eine Geschichte erzählten und das ist entscheidend dafür, dass sie ein Verständnis entwickeln", erklärt Pennebaker.

Manche Menschen gehen aus den Schreckenserlebnissen sogar gestärkt hervor

Der treibende Prozess der Heilkraft des Erzählens scheint nicht etwa darin zu bestehen, dass jemand seinen Affekten und seinem Ärger Ausdruck verleiht. Vielmehr kommt es auf die Übersetzung in Worte an, wie eine Forschungsarbeit nahelegt. So baten die Wissenschaftler um Pennebaker in einer Studie eine Probanden-Gruppe ihren Gefühlen durch körperliche Bewegungen Ausdruck zu verleihen, die andere schrieb wie gewohnt ihre Abenteuer auf. Zufriedener zeigten sich hernach alle. Aber die körperlichen Werte besserten sich nur bei den Erzählern. "Für die gesundheitlichen Effekte scheint es erforderlich zu sein, Erlebnisse in Sprache zu übersetzen", folgert Pennebaker. "Ein Narrativ zu haben, ist so etwas, wie einen Job zu Ende zu bringen, denn es erlaubt einem das Ereignis zu vergessen. Schmerzhafte Erlebnisse, die nicht in einem narrativen Format strukturiert werden, können fortlaufend negative Gedanke und Gefühle erzeugen."

Abu Mohammad al-Adnani
:Die Gräuelbilder des IS leben weiter

Al-Adnani, der Propagandachef der Terrormiliz, mag tot sein, doch im Netz lebt die Botschaft, die er verbreitete, weiter. Er hat eine beispiellose Verrohung in Gang gesetzt.

Kommentar von Moritz Baumstieger

Hier kommt ein Aspekt ins Spiel, der gerne vergessen wird, weil er vielleicht banal oder kitschig anmutet: das glückliche Ende. Geschichten befördern die Versöhnung, den persönlichen Abschluss mit einem Ärger. Die Schlussbewertung beendet quälende Grübeleien.

Bei dem Mädchen Aziza stellte sich gar etwas ein, das Therapeuten posttraumatisches Wachstum nennen: Manche Menschen bewältigen Schreckenserlebnisse nicht nur, sondern gehen gar gestärkt daraus hervor. In ihrem Leben erkennen sie einen neuen Sinn und fassen neue Ziele. Aziza, die heute in die neunte Klasse geht, möchte so schnell wie möglich Deutsch lernen und nach der Schule Jura studieren. Sie möchte nunmehr für andere kämpfen, denen Unrecht geschehen ist. Diese Zukunft symbolisieren vier Blumen, die sie ans Ende ihrer Lebenslinie gelegt hat.

© SZ vom 03.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: