Süddeutsche Zeitung

Psychopathen in Film und Realität:Hannibal Lecter und all die anderen

Hochintelligente Serienmörder, irre Schlächter, Kannibalen und Leichenschänder - wie realistisch ist die Darstellung von Psychopathen im Film? Psychiater analysierten 400 Beispiele - und fanden ziemlich gutes Lehrmaterial.

Von Markus C. Schulte von Drach

Gleich in zwei Punkten lag der erfolgreiche Film "Das Schweigen der Lämmer" ziemlich daneben: Der 1991 erschienene Streifen machte die Themen Profiling und Serienmord zwar extrem populär. Zugleich sorgte er dafür, dass die Öffentlichkeit nachhaltig einen völlig verzerrten Eindruck von beiden bekam.

Dabei hatte sich Thomas Harris, der Autor der Buchvorlagen für "Das Schweigen der Lämmer" und dessen Vorgänger "Roter Drache" bei den echten Profilern des FBI umgehört. Sowohl die Serientäter, mit denen sie es zu tun hatten, als auch die systematische Arbeit der Beamten waren ihm aber offenbar nicht dramatisch genug.

Mit der Figur Will Graham schuf er in "Roter Drache" deshalb einen ersten fiktiven Profiler, der sich so tief in Serienmörder hineinversetzen kann, dass er selbst psychische Probleme bekommt. Durch diese Darstellung sorgte Harris für den Ruf der FBI-Agenten, sie könnten sich zumindest vorübergehend mit geisteskranken Mördern identifizieren. Seitdem zitieren die Medien mit ermüdender Penetranz Friedrich Nietzsche: "Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein."

Die zweite folgenschwere Entscheidung von Harris war die Erfindung des (fiktiven) kannibalistischen Psychiaters Hannibal Lecter in "Schweigen der Lämmer" - dem inzwischen wohl bekanntesten Serienmörder nach (dem realen, aber bis dato unbekannten Täters mit dem Pseudonym) Jack the Ripper. Seitdem assoziieren viele Menschen den Begriff des Psychopathen auch mit hochintelligenten, scharfsinnigen, gebildeten, kultivierten, ja genialen Mördern.

Vielleicht hilft der aktuelle Dokumentarfilm "Blick in den Abgrund" von Barbara Eder, den Mythos von den Profilern als Ermittlern mit außergewöhnlichen Fähigkeiten zu entzaubern. In ihrem Porträt von sechs Profilern dokumentiert Eder, zu welchen furchtbaren Taten manche Menschen fähig sind, wie die Ermittler ihnen auf die Spur kommen und welche Auswirkungen der Umgang mit den Verbrechen auf deren Leben hat. Und eines ist klar: Kein Profiler wird zu einem Ungeheuer - auch nicht vorübergehend.

Eine Studie von belgischen Wissenschaftlern zeigt nun, wie falsch auch das Bild von Mördern und Serienmördern als Psychopathen ist, das in Spielfilmen überwiegend gezeigt wird. Eine besondere Bedeutung kommt der Untersuchung schon deshalb zu, weil Fachleute davon ausgehen, dass Filme die Wahrnehmung der Öffentlichkeit von Patienten mit geistigen Störungen beeinflussen könne.

Samuel Leistedt und Paul Linkowski, forensische Psychiater an der Université libre de Bruxelles haben sich 400 Filme angeschaut, die zwischen 1915 und 2010 erschienen sind und in denen Verbrecher eine wichtige Rolle spielten. Dann warfen sie alle auf den ersten Blick unrealistischen Figuren von ihrer Liste, zum Beispiel solche, die über Superkräfte verfügten oder offensichtlich Karikaturen waren. Übrig blieben Charaktere aus 126 Filmen, für die eine psychiatrische Diagnose anhand der gezeigten Merkmale in einem begrenzten Rahmen möglich war.

Hannibal Lecter allerdings gehörte nicht dazu, berichten sie im Journal of Forensic Sciences. Zwar weist der "Kannibale" einige Eigenschaften von Psychopathen auf. Sie leiden an einer besonders starken dissozialen oder antisozialen Persönlichkeitsstörung. Unter anderem mangelt es ihnen an Empathie, sie zeigen keine Reue und sind nicht fähig, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Manche sind unbeherrscht und gewalttätig, einige äußerst geschickt im Manipulieren. Mit anderen Worten: Es sind gefühllose, kaltblütige, egoistische Narzissten, die, wenn es sein muss, auch über Leichen gehen, häufig aber mit Täuschung und Betrug zum Ziel kommen. Und manche sind Psychopathen von Geburt an.

"Elite-Psychopathen" wie Hannibal Lecter aber, sagen die Wissenschaftler, sind schlicht unrealistisch. "Er ist zu schlau", sagte Leistedt dem Boston Globe. "Er hat mit allem Erfolg. Er isst seine Opfer, er bricht aus dem Gefängnis aus. Er schafft es in den Kopf der Leute. Er ist nicht groß, aber mächtig. Das entspricht nicht der Realität."

Eine ganze Reihe anderer prominenter fiktiver Verbrecher ließen sich den Psychiatern zufolge jedoch mehr oder weniger gut verschiedenen Untertypen von Psychopathen zuordnen. Dazu gehören Figuren wie Patrick Bateman, Auric Goldfinger, Toni Montana, Bonnie und Clyde, Colonel Walter E. Kurtz, Harry Lime, der "Schakal", Alex DeLarge, Tom Ripley, Mallory und Mickey Knox. Nicht bei allen Verbrechern handelt es sich um Mörder oder Gewalttäter.

Auch Gordon Gekko etwa, der Finanzhai aus dem Film "Wall Street", ist den Wissenschaftlern zufolge ein geborener Psychopath vom manipulativen Typ. Und manche, etwa Norman Bates aus Hitchcocks "Psycho" (1960, Autor Robert Bloch), John Doe aus "Seven" (1995) oder Annie Wilkes aus "Misery" (1990, Autor Stephen King) könnten Psychopathen sein, eher noch erscheinen sie allerdings als psychotisch: Sie leiden unter einem weitgehenden Verlust des Bezugs zur Realität.

In Einzelfällen sind die Darstellungen in den Filmen sogar sehr realistisch. Besonders beeindruckt zeigten sich Leistedt und Linkowski von der Beschreibung des Auftragskillers Anton Chigurh aus dem Film "Kein Land für alte Männer" (No Country for Old Men) von den Coen-Brüdern aus dem Jahr 2007. "Die Unfähigkeit zu lieben, das Fehlen von Scham oder Reue und Einsicht, die Unfähigkeit aus Erfahrungen zu lernen, Kaltblütigkeit, Rücksichtslosigkeit, Verbissenheit und das Fehlen von Empathie" ließen ihn als klassischen geborenen Psychopathen erscheinen, schreiben Leistedt und Linkowski.

Sie vergleichen ihn mit Richard Kuklinski, dem "Iceman", der als Mafiamörder eigenen Angaben zufolge mehr als 200 Menschen getötet hat. Andere relativ korrekte Darstellungen finden sich in den Filmen "Henry - Porträt eines Serienmörders" (1991) und in "In meinem Himmel" (The Lovely Bones, 2010), wo Kinder Opfer eines psychopathischen Sexualmörders werden. (Über die Qualität der Filme insgesamt sagen die Psychiater übrigens nichts.)

Zwar steht das Filmpublikum noch immer unter dem Eindruck von Hannibal, der trotz oder vielmehr gerade wegen seines kranken Charakters so viele Menschen fasziniert. Seit 2013 ist er - nach mehreren Kinofilmen - sogar der Star der gleichnamigen Fernsehserie. Und die verzerrt auch die Arbeit der Profiler wieder ins Absurde. "Hannibal" dürfte deshalb dazu beitragen, ein falsches Bild vom psychopathischen Mörder und dem Ermittler mit dem sechsten Sinn am Leben zu erhalten. Doch den Psychiatern zufolge gibt es durchaus einen kleinen Trend zu realistischeren Darstellungen geisteskranker Verbrecher - parallel zu den zunehmenden Erkenntnissen der Wissenschaftler und Kriminologen.

Die ersten Darstellungen von Psychopathen waren Leistedt und Linkowski zufolge eher Karikaturen: Sadisten und irrationale, kichernde Gewalttäter mit Gesichtszuckungen. Bis in die späten 50er Jahre sei es in der amerikanischen Filmindustrie üblich gewesen, Psychopathen als Bösewichte mit irrem Blick auftreten zu lassen wie Richard Widmark als Tommy Udo in "Kiss of Death" (1947). Eine Ausnahme war den Autoren zufolge die Figur des von Peter Lorre sehr realistisch dargestellten Kindsmörders Hans Beckert in dem Fritz-Lang-Klassiker "M - Eine Stadt sucht einen Mörder" (1931).

1957 dann wurde in den USA der Fall des mehrfachen Mörders, Grabräubers, Leichenschänders und Kannibalen Ed Gein bekannt. Nach seiner Verhaftung wurde bei ihm eine Schizophrenie diagnostiziert, er wurde allerdings auch als "Sex-Psychopath" bezeichnet. Und obwohl Gein eher psychotisch war - mit anderen Worten: wahnsinnig - entwickelte er sich zum Vorbild des Psychopathen, der charakteristisch für ein ganzes Genre wurde: den Horrorfilm. Zwei Typen von Psychopathen-Porträts entwickelten sich den Psychiatern zufolge aus dem Fall Gein: Zum einen entstand der Außenseiter mit einem sexuell motivierten Drang zu töten. Die bekanntesten Beispiele wären Norman Bates in Hitchcocks Klassiker "Psycho" (1960), der deutlich erkennbar Gein nachempfunden war, und Mark Lewis in "Peeping Tom".

Zum anderen entwickelte sich der unrealistische Filmcharakter des extrem gewalttätigen, chaotischen Massenmörders wie er etwa im "Blutgericht in Texas" (The Texas Chain Saw Massacre), "Freitag dem 13." und "Halloween" auftritt. Geprägt wurden diese Filme - insbesondere die Slasher-Filme, bei denen die blutigen Morde im Vordergrund stehen - ausgerechnet durch neue Erkenntnisse zu realen psychopathischen Killern und Serienmördern in den 60er und 70er Jahren. Die Öffentlichkeit wurde versorgt mit einer "wachsenden Menge an Informationen über das Verhalten und vor allem mit der klinischen Beschreibung von Psychopathen, die bei ihren Morden rituelle Verhaltensweisen zeigten". Die Filmindustrie, so schreiben Leistedt und Linkowski, setzte nun auf die brutalen, allerdings überwiegend falsch verstandenen Praktiken mancher Täter - die in der Regel mit realen Psychopathen nichts mehr zu tun haben.

Die Verhaftungen von Serienkillern wie John Wayne Gacy und Ted Bundy (beide 1978) und die Arbeit des FBI an Profilen solcher Mörder in den 80er Jahren veränderte das Bild der Psychopathen im Film erneut. Diese Täter waren intelligent und geschickt genug gewesen, über Jahre zu morden, ohne erwischt zu werden. Dazu kam das bizarre Verhalten berühmter Figuren wie Ed Gein, der nicht nur Kannibale war, sondern sich aus der Haut von Leichen auch noch Kleidungsstücke genäht hatte. So entstanden zum Beispiel die halbwegs realistisch dargestellten Psychopathen oder Psychotiker wie Jamie Gumb und Francis Dollarhyde in "Das Schweigen der Lämmer" und "Roter Drache". Und es entstand das Bild des unrealistischen Psychopath-Genies Hannibal Lecter.

Trotz einer Entwicklung der Figuren, so das Fazit der Autoren, erinnerten die meisten fiktiven psychopathischen Schurken noch immer an eine Art "schwarzen Mann". Realistische Charaktere seien noch in der Minderheit. Die Filme, in denen sie vorkommen, könnten aber als Lehrmaterial für zukünftige forensische Psychologen und Psychiater taugen, da sie manche Aspekte besonders anschaulich darstellen. Schließlich ist es Studierenden selten möglich, selbst solche Täter zu untersuchen und zu befragen, wie es Leistedt und Linkowski getan haben. Außerdem könnten die Filme Hinweise darauf geben, wie etwa die Justiz zur Zeit der Veröffentlichung mit solchen Verbrechern umgegangen ist.

Bleibt das Problem, dass die Öffentlichkeit "Geisteskranke" sowieso schon für gefährlicher hält als geistig gesunde Menschen. Filme, in denen sie als Gewaltverbrecher und Mörder auftreten, könnten diesen Eindruck noch verstärken, auch - oder gerade - wenn es eine realistische Darstellung ist.

Aber sie werden als Protagonisten aus der Spannungsliteratur kaum verschwinden. Deshalb kann nicht oft genug darauf hingewiesen werden, dass die Gefahr, die von psychisch Kranken ausgeht, im Allgemeinen nicht höher ist als bei geistig Gesunden. Dagegen ist ihr Risiko, selbst zum Opfer zu werden, überdurchschnittlich hoch.

Lediglich bei den wenigen unbehandelten Menschen mit Psychosen besteht ein erhöhtes Risiko. Mörderischen Psychopathen allerdings begegnen wir immer noch fast ausschließlich im Kino.

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