Süddeutsche Zeitung

Psychologie: Sensible Kinder:Wilder Löwenzahn, fragile Orchidee

Von wegen trauriges Sensibelchen: Feinfühlige Kinder blühen stärker auf als ihre robuste Altersgenossen - wenn das soziale Umfeld stimmt.

Hubertus Breuer

Die Entwicklungspsychologen Jelena Obradovic und Thomas Boyce machten es den fünf- bis sechsjährigen Jungen und Mädchen nicht gerade leicht: In kalifornischen Vorschulen ließen sie mehr als 300 Kinder in Einzelgesprächen einem Fremden erst einmal von ihrer Familie und ihren Freunden erzählen. Dann baten sie die Kinder, sechsstellige Zahlen zu wiederholen.

Sie träufelten ihnen außerdem zwei Tropfen konzentrierten Zitronensaft auf die Zunge, die sie geschmacklich einordnen sollten. Schließlich mussten sich die Kleinen noch einen Film ansehen, in dem ein Gewitter einem Jungen und einem Mädchen ordentlich Angst einjagt.

In anderen Worten: Stress pur. Zweck der Tests war, wie Obradovic von der kalifornischen Stanford University und Boyce von der kanadischen British Columbia University im Frühjahr dieses Jahres im Fachblatt Child Development schrieben, die Sensiblen unter den Kindern zu entdecken - also jene, die besonders stark auf Umweltreize reagieren.

Entwicklungspsychologen wissen seit langem, dass es weniger robuste Kinder gibt und dass diese im späteren Leben häufiger unter Angststörungen und Depression leiden.

Positive Umwelteinflüsse

Obradovic und Boyce wollten aber herausfinden, wie diese hoch reaktiven Kinder auf positive Umwelteinflüsse reagieren. Die Forscher teilten die Sensibelchen deshalb in zwei Gruppen auf - in jene, die mit schwierigen Umständen in ihrem Alltag zu kämpfen hatten, und andere, die kaum Widrigkeiten ausgesetzt waren.

Dabei konnten sie beobachten, dass die feinfühligen Kinder ohne Stress in ihrer Umgebung weniger verhaltensauffällig waren, sich deutlich mehr in der Vorschule engagierten und sozial umgänglicher waren. Mehr noch, diese Kinder entwickelten sich sogar besser als ihre weniger stressanfälligen Altersgenossen.

Ähnliches konnten die Kinderpsychologen Jay Belsky und Michael Pluess vom Institute for the Study of Children an der Londoner Birbeck University kürzlich feststellen. Sie begleiteten Kinder von mehr als 1300 Familien vom sechsten Lebensmonat bis zum zwölften Lebensjahr. Es zeigte sich, dass Kinder mit einem fragileren Wesen am meisten von mütterlicher Zuwendung und der Fürsorge in Krabbelstuben, Kindergärten und Schulen profitierten. "Dass die Kinder bis in die sechste Jahrgangsstufe eine so anhaltende Sensibilität zeigen, lässt uns hoffen, dass diese Beeinflussbarkeit auch während der Pubertät und womöglich noch länger anhält", so Belsky.

Mittlerweile klären Wissenschaftler auch die molekularen Grundlagen dieser Prozesse auf. So hat der Würzburger Verhaltensforscher Klaus-Peter Lesch bereits 1996 im Fachjournal Science eine kürzere Variante des Transportergens für den Neurotransmitter Serotonin beschrieben, der für Fühlen und Verhalten wichtig ist.

Diese Variante scheint Menschen empfänglicher für positive wie negative Reize zu machen. Wachsen Kinder mit diesem kurzen Gen in einer liebevollen Familie auf, ist ihr Risiko, depressiv zu werden, deutlich geringer als das ihrer Altersgenossen. Doch finden sie sich in einer zerstrittenen Familie wieder, werden sie eher ängstlich und schwermütig als andere Kinder.

Diese und spätere Untersuchungen markieren ein Umdenken in der Entwicklungspsychologie. Galten Kinder mit einer Veranlagung zu Stressempfindlichkeit, Depression, Angststörungen oder zum Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) als von Geburt an belastet, stellt sich jetzt heraus, dass viele dieser Kinder ein großes Potential haben - wenn sie nur in einem emotional unterstützenden, fördernden Umfeld aufwachsen. Sie kommen nicht mit "Pathologiegenen" zur Welt, sondern ihr Erbgut reagiert verstärkt auf das Gute wie das Schlechte in der Welt.

Zerbrechliche Orchideen, die wieder aufblühen

Entwicklungspsychologen benutzen deshalb inzwischen eine Metapher aus der Botanik: "Die meisten Kinder sind wie Löwenzahn", sagt Lesch. "Sie schlagen überall Wurzeln, halten durch und überleben. Einige sind aber wie Orchideen: zerbrechlich und unbeständig, aber im Treibhaus blühen sie wunderbar auf."

Dabei scheinen bereits relativ kurze Interventionen zu helfen. So begann die Kinderpsychologin Marian Bakermans-Kranenburg von der niederländischen Universität Leiden im Jahre 2004 eine Studie mit mehr als 300 ein- bis dreijährigen Kindern, die als schwierig eingestuft waren: Sie schrien oft, schlugen um sich, warfen mit Gegenständen und stellten sich bei den kleinsten Bitten stur.

Unter ihnen identifizierte sie jene Kinder, die Träger einer mit dem ADHS assoziierten Genvariante waren - diese ist für einen veränderten Spiegel des Botenstoffes Dopamin im Gehirn mitverantwortlich. Die Folgen: die Kinder neigen dazu, unaufmerksam und hyperaktiv zu agieren, sind aber auch besonders neugierig, begeisterungsfähig und kreativ.

Acht Monate lang besuchte Bakermans-Kranenburg die Familien dieser Kinder. Sie filmte sie, schnitt Schlüsselszenen zusammen und zeigte sie anschließend den Eltern, um ihnen Ratschläge zu geben, wie mit den Kindern besser umzugehen sei. Nach dieser Intervention stellte sich bereits nach einigen Monaten heraus, das die Kinder mit widerstandsfähigeren Erbanlagen ihr Verhalten um zwölf Prozent verbesserten, während die empfindsameren Kinder mit dem Risikogen um 27 Prozent weniger verhaltensauffällig waren. Wie die exotischen Blumen blühten sie auf, wenn man ihnen nur die richtige Pflege angedeihen ließ.

Ob ein Mensch sich zu einem Sieger oder einen Verlierer entwickelt, ist also nicht unbedingt in den Erbanlagen festgeschrieben. Gerade bei diesen für Außenreize besonders empfänglichen Kindern zeigt sich, wie Erfahrungen genetische Programme ändern und die Persönlichkeit der Kinder ganz unterschiedlich prägen. "Der evolutionäre Hintergrund ist wohl, dass wir Erbanlagen haben, die sich flexibel der Welt anpassen, in der wir aufwachsen", sagt Boyce. "Wenn es viel Stress gibt, hilft es, ängstlich und zurückhaltend zu sein; wenn alles dagegen bestens läuft, kann man sich ungefährdet exponieren."

Unkraut wie Löwenzahn gedeiht dagegen weitgehend überall. So kommt man weniger zu Schaden, profitiert aber auch weniger von positiven Umständen.

Die neuen Studien passen somit zu den Hypothesen jener Forscher, die generell nach den evolutionären Ursprüngen psychischer Störungen fragen. "Biologische Veranlagungen, die uns nur zum Nachteil gereichen, hätten dem selektiven Druck der Evolution dauerhaft nicht standhalten können", vermutet der Würzburger Verhaltensforscher Lesch. "Wir wissen also, dass diese Risikomerkmale, die bei einem erheblichen Teil der Bevölkerung vorkommen, unter bestimmten Bedingungen auch ihre gute Seite haben können. Und die Forschergemeinde ist dabei, diese Vorzüge zu entdecken." So demonstrierten Studien, dass Menschen mit einer Veranlagung für Depression geistig leistungsfähiger sind - sie können sich häufig besser konzentrieren, ihr Arbeitsgedächtnis arbeitet effizienter und sie entscheiden reflektierter und gewissenhafter.

Gen macht entdeckungsfreudig

Solche Besonderheiten finden sich nicht nur beim Menschen. Lesch entdeckte zusammen mit dem Primatenforscher Stephen Suomi vom National Institute of Child Health and Human Development in Bethesda, Maryland, dass Rhesus-Affen mit der kurzen Variante des Serotonintransporter-Gens ebenfalls empfindlicher reagieren als Artgenossen - und in stressfreier Umgebung aufgezogen einen höheren Serotoninspiegel haben.

Seltsamerweise taucht die Variante nicht bei anderen Primaten wie Schimpansen oder Gorillas auf. "Dieses Gen hat uns Menschen womöglich ermöglicht, immer neugierig zu neuen Ufern aufzubrechen", spekuliert Lesch. "Und Rhesusaffen sind über den Himalaya nach China gewandert, man findet sie heute in ganz Asien. Diese Tiere sind jedenfalls entdeckungsfreudig. Schimpansen und Gorillas dagegen verlassen ihre angestammten Lebensräume nicht - und stehen deshalb auf der Liste bedrohter Arten."

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Quelle:
SZ vom 29.12.2010/dmo
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