Niemand hätte der jungen Frau aus Wien zugetraut, dass sie einmal wieder glücklich sein würde. Als Natascha Kampusch kurz nach ihrer Flucht im Fernsehen auftrat, machte sie die Zuschauer sprachlos. Ein hilfloses Opfer hatten sie erwartet, das nach acht Jahren in der Gewalt eines Entführers gebrochen wirkt. Stattdessen präsentierte sich eine selbstbewusste junge Frau, die in ihrem Innersten unversehrt zu sein schien.
Wie kann es sein, dass jemand ein solches Martyrium übersteht, während andere Menschen schon nach viel kleineren Schicksalsschlägen den Lebensmut verlieren? Weshalb sprudelt ein Unternehmer nach dem Bankrott seiner Firma wieder vor neuen Ideen, während sich ein anderer aufgibt? Warum nagt ein falscher Satz eines Kollegen an dem einen drei Tage lang, während der andere ihn kaum hört? Weshalb landet einer am Ende einer großen Liebe im Suff, während der andere bald neuen Sinn im Leben findet? Die Frage, was uns stark macht, beschäftigt Psychologen derzeit sehr. Ganz offensichtlich gibt es Zeitgenossen, die wie Felsen in der Brandung kaum zu erschüttern sind. Von ihnen möchten alle gerne lernen.
Viel zu lange haben sich Psychologen nur mit den Abgründen der Seele befasst. Haben erkundet, wie Wahnvorstellungen, Depression und Panikattacken entstehen, bis sich einzelne Abtrünnige der Positiven Psychologie zuwandten. Sie wollen die Strategien erkunden, mit denen sich die Lebenstüchtigen durch Krisen manövrieren, und die Ressourcen finden, die sie dafür bereithalten.
Einen Teil dieses Geheimnisses hat Willy Brandt einmal kurz und knapp verraten: "Es gibt kaum hoffnungslose Situationen, solange man sie nicht als solche akzeptiert", sagte er in hohem Alter. Das gehänselte, vaterlose Kind, der Flüchtling, der Mann aus dem Untergrund, der es später zum Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger brachte, verriet unmissverständlich: Die Starken, die Stehaufmännchen finden immer einen Ausweg. Sie haben die Kraft, Licht am Horizont zu sehen, wo es anderen aussichtslos erscheint. Sie wissen genau, was sie als nächstes tun werden, wenn andere planlos sind. Resilienz nennen Psychologen das, die Kraft, aus einer deprimierenden Situation wieder ins volle Leben zurückzukehren.
Die große Überraschung
Die Ursprünge der Resilienzforschung gehen in die 1950er-Jahre zurück. Damals begann die amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy Werner eine Studie auf der hawaiianischen Insel Kauai. Vier Jahrzehnte lang beobachtete Werner dort 698 Jungen und Mädchen. Deren Chancen auf ein schönes Leben standen alles andere als gut. Armut, Vernachlässigung, Misshandlung prägten ihre Kindheit. Nicht selten waren die Ehen der Eltern zerrüttet, Geld fehlte immer, viele Väter waren süchtig nach Alkohol.
Am Ende aber gab es eine große Überraschung. Hätten Psychologen alter Schule den Kindern ausnahmslos ein desaströses Schicksal vorausgesagt, so ist seit Emmy Werners Langzeitstudie klar: Auch wenn die Startbedingungen noch so schlecht sind, meistern manche Menschen ihr Leben gut. Ein Drittel der Kinder von Kauai wuchs zu selbstbewussten, fürsorglichen und leistungsfähigen Erwachsenen heran, die im Beruf wie in persönlichen Beziehungen bestanden.
Als erster deutscher Fachmann machte sich Friedrich Lösel von der Universität Erlangen-Nürnberg, auf die Suche nach dem Geheimnis der starken Kinder. Er wollte das Besondere finden, das diese Kinder vor seelischen Problemen und Verwahrlosung bewahrte. Das war Teil einer neuen Sichtweise auf die Entwicklung des Menschen. Heute geht es Psychologen nicht mehr nur um Belastungen, die das Selbstbewusstsein täglich erschüttern, sondern zunehmend auch um Schutzfaktoren für die Seele. Und der allergrößte Schutz im Leben ist Bindung.
Die starken Kinder von Kauai hatten etwas, das die anderen nicht hatten: Es gab zumindest eine liebevolle Bezugsperson, die sich um sie kümmerte. "Das ist unsere pädagogische Chance", sagt Monika Schumann, Professorin für Heilpädagogik an der Katholischen Hochschule Berlin. "Eine solche Bindung macht so stark, dass viele negative Faktoren dadurch wieder wettgemacht werden." Dabei muss die Vertrauensperson nicht unbedingt Mutter oder Vater sein. Eine Tante, ein Lehrer, eine Nachbarin können diese Rolle füllen. "Wichtig ist es, Kindern auf Augenhöhe zu begegnen", sagt Schumann. "Jemand muss ihnen Geborgenheit geben, ihre Fortschritte anerkennen, ihre Fähigkeiten fördern und sie unabhängig von Leistung und Wohlverhalten lieben: Das macht stark fürs Leben."
Das heißt aber nicht, dass man Kinder in Watte packen soll, betont Friedrich Lösel. Schon die Kleinsten sollten im Sandkasten ihren Streit um die Förmchen austragen. "Wenn Menschen nicht als Kinder lernen, sich bei Gegenwind zu behaupten, werden sie es als Erwachsene auch nicht gut können." Wer stark werden will, muss auch Frust aushalten. Dabei sollten die Kinder aber nicht sich selbst überlassen bleiben. "Wenn sie überfordert sind oder scheitern, muss jemand für sie da sein", sagt Lösel.
Verwundbar, aber unbesiegbar
Auf diese Weise erlangen die Starken eine weitere wichtige Fähigkeit. Weil sie gelernt haben, dass sie sich auf andere verlassen können, suchen sie sich in der Not gezielt die Hilfe, die sie brauchen. Auch wer stark ist, ist nämlich keineswegs immer gut drauf. Zum Starksein gehört es durchaus, nach einer Krebsdiagnose mit dem Schicksal zu hadern oder nach der Kündigung in ein tiefes Loch zu fallen. Wissenschaftler dachten zunächst, die starken Kinder von Kauai seien unverwundbar. "Nein, das sind sie nicht", erläutert Emmy Werner. "Sie sind verwundbar, aber unbesiegbar."
Wer lebenstüchtig ist, steht eben bald wieder auf - auch weil ihn mehr stützt im Leben als nur eine einzige Säule. "Wer aus mehreren Quellen Selbstwertgefühl bezieht, kommt mit Niederlagen einfach besser zurecht", sagt Monika Schumann. Der Rüffel des Chefs geht ins Leere, wenn der Beruf nicht das einzig Sinnstiftende im Leben ist. Der misslungene Vortrag ist vergessen, sobald am Abend die Kinder vor Freude quietschen.
Schon die Gestaltung ihres Lebens fangen die Starken klug an. "Resiliente Menschen kennen sich oft besonders gut", sagt Monika Schumann. Wer einen unverstellten Blick auf sich selbst hat, sucht sich seinen Partner fürs Leben und seinen Arbeitsplatz nach eigenen Kriterien, Bedürfnissen und Vorlieben und nicht nach den Maßstäben anderer, zu denen vielleicht eine schwarze Dienstlimousine oder ein weißer Arztkittel gehören. So werden Job und Ehe zu Kraftspendern statt zum Ort ständigen Energieverlusts.
Die Resilienz ist das eigentliche Rüstzeug fürs Leben. Für so wichtig halten Pädagogen sie inzwischen, dass Resilienz schon in Kindergärten ein großes Wort geworden ist. Wo ein Kind seine emotionalen Stärken und Schwächen hat, dokumentieren die Erzieher in bayerischen Kindergärten seit Herbst 2008 mit Hilfe eines Fragebogens namens "Perik" - für "Positive Entwicklung und Resilienz im Kindergartenalter". Psychologische Tests zeigen nämlich: Starke Menschen sind emotional ausgeglichener. Das liegt gewiss zum Teil an ihren Genen, aber auch daran, dass sie sich sicher und geborgen fühlen. Deshalb fügen sie sich gut in Gruppen ein, sind verträglich, engagiert, begeisterungsfähig und gewissenhaft. Sie sind eher extrovertiert, freuen sich auf neue Erlebnisse ebenso wie auf andere Personen. "Das sind Menschen, die es einem leicht machen, sie zu mögen, und die deshalb leichter Freunde oder andere Unterstützer finden", sagt die Psychologin Karena Leppert von der Universität Jena.
"Ob Kinder im Kindergartenalter diese sozial-emotionalen Kompetenzen bereits vermissen lassen, können die Erzieher mit Hilfe des Perik-Bogens leichter beurteilen", sagt Toni Mayr, der am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München den Fragebogen mitentwickelt hat. Wie kontaktfähig ist ein Kind? Wie gut ist seine Selbststeuerung - kann es auch Rücksicht nehmen? Behauptet es sich selbst - mit legitimen Mitteln? Funktioniert seine Stressregulation - ohne auf andere Kinder einzuprügeln? Kann es Aufgaben selbstständig und ausdauernd bewältigen? Und schließlich: Ist es neugierig und offen für Unbekanntes?
Diese Fragen für jedes Kind zu beantworten und an etwaigen Defiziten zu arbeiten, ist in Bayern nicht umsonst Teil des Bildungsplans. Denn die abgefragten Kompetenzen machen nicht nur stark, sondern auch schlau: "Emotionale Stärke ist wichtig dafür, auf Neues zuzugehen", sagt Monika Schumann. Ein Kind, das Angst hat, mag unbekanntes Terrain erst gar nicht betreten. "Seine Lernfähigkeit wird beeinträchtigt."
Kindern mit einem Mangel an psychischer Widerstandskraft sollten Erzieher und Eltern helfen. "Sie sollten das Kind zum Beispiel fragen, was es tun könnte, damit es ihm besser geht", sagt Toni Mayr. Vielleicht ausruhen? Vielleicht rennen? "Ein Kind kann dadurch lernen, dass es manche Probleme selbst in den Griff bekommen kann", so Mayr. "Das macht es stolz und das macht es stark."
Starke Persönlichkeiten wissen nämlich, dass sie etwas bewirken können. Deshalb verfallen sie nicht in Resignation. Hürden sind für sie zum Überwinden da. Diese Eigenschaft nennen Psychologen Selbstwirksamkeit. Sie bietet Halt im Sturm des Lebens. "Selbstwirksamkeit wird schon im Säuglingsalter vermittelt", sagt Monika Schumann. "Wenn ein Kind schreit und die Mutter kommt, dann spürt es: Ich bin wer."
Resilienz entsteht meist früh. Aber sie lässt sich auch im späteren Leben noch erlernen. Wer sich nicht gewappnet fühlt für den nächsten Sturm, dem empfiehlt Friedrich Lösel folgende Strategie: "Man sollte sich nicht zu viel zumuten, aber durchaus einigen Anforderungen stellen." An den Erfolgen lerne man, dass schwierige Aufgaben zu meistern sind. Und wer von Anfang an auch Scheitern einkalkuliert, der lernt auch aus Misserfolgen, ohne diese nur negativ zu sehen. "Auf diese Art wächst man an seinen Aufgaben", sagt Lösel. Auch das ist nämlich eine Gabe der seelisch Starken. Sie klammern sich nicht an bestimmte Lebensentwürfe oder Vorstellungen, sondern betreiben "flexible Zielanpassung". Ein Ziel wird hartnäckig verfolgt, aber nur solange, bis sich herausstellt, dass es zwecklos ist.