Eine kleine Szene aus dem Beziehungsalltag: Ein Student erzählt seiner Freundin, dass er sich an einer renommierten Universität bewerben will. Sie streichelt ihm über den Rücken und versetzt ihm mit warmer Stimme einen kalten Stich: "Schatz, meinst du nicht, dass es schwierig ist, dort genommen zu werden. Die haben ja doch sehr strenge Auswahlkriterien." Es gibt Menschen, die mit Vorliebe die Hoffnungen ihres Gegenübers zerdeppern. Sie bremsen deren Tatendrang, streuen Selbstzweifel, vergiften zwischenmenschliche Beziehungen. Sie sind fest davon überzeugt, dass sie besser sind als alle anderen. Vielleicht trieb so ein Überlegenheitsgefühl die Freundin dazu, die Hoffnungen ihres Partners zu zerstören.
Die Rede ist von Narzissten. Nach dem DSM-5, dem Diagnosekatalog der American Psychiatric Association, beruht das Selbstwertgefühl krankhafter Narzissten stark auf der Wertschätzung anderer, entsprechend fragil ist es. Sie stecken sich unvernünftig hohe Ziele, um als außergewöhnlich zu gelten. Im zwischenmenschlichen Umgang sind sie kaum in der Lage, sich in andere Personen hineinzuversetzen. Im Normalfall hören sie nicht zu, beachten, verstehen und unterstützen ihre Nächsten nicht.
Dennoch gelingt es ihnen oft erstaunlich gut, andere Menschen zu lesen. Am liebsten umgeben sie sich mit Menschen, die ihr Bedürfnis nach Bewunderung zufriedenstellen. Aufmerksamkeit bewirken sie erst durch Charme, später durch Drohungen. Bleibt die ersehnte Aufmerksamkeit aus, schrecken sie nicht davor zurück, Druck auszuüben, gezielt Schuldgefühle beim Gegenüber hervorzurufen und ihn zu manipulieren.
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In Zeiten, in denen sich gefühlt alle um sich selbst drehen, sich an den eigenen Facebook-Fotos ergötzen und sich mit Selfies ihrer Existenz versichern - liegt der Verdacht nahe, dass unsere Gesellschaft mehr Narzissten produziert als je: Schaut her und liket. Man hat rasch die Lauten, Extrovertierten und Dominanten vor Augen: Silvio Berlusconi, Cristiano Ronaldo, Thomas Middelhoff. Geht unser Selbstverwirklichungswahn also Hand in Hand mit einer ordentlichen Prise Narzissmus? Fördert unsere Leistungsgesellschaft unsere Ich-Zentriertheit?
Sie sind optimistisch, besitzen viel Selbstwertgefühl und geben emotionale Unterstützung
Auch wenn es keine aktuellen Längsschnittstudien zur Epidemiologie der narzisstischen Persönlichkeitsstörung gibt, glaubt etwa der Berliner Psychiater und Borderline-Experte Stefan Röpke, dass einiges auf eine Zunahme hindeutet. Er und sein Team haben etwa 1000 Menschen in Ost- und Westdeutschland im Internet den sogenannten PNI-Fragebogen ausfüllen lassen - das Pathologische Narzissmusinventar.
Die Studie ist noch nicht veröffentlicht, aber sein erster Eindruck ist: "Es hat sich gezeigt, dass Menschen mit Ost-Sozialisation ein höheres Selbstwertgefühl und niedrigere Narzissmus-Werte aufwiesen als Menschen mit West-Sozialisation. Bei jenen, die während der Wendezeit zwischen sechs und acht Jahre alt waren, gleichen die Narzissmuswerte denen der Westdeutschen. Man könnte daraus also den Schluss ziehen, dass unsere moderne westliche Welt Narzissmus befördert."
Tatsächlich ist in Büchern und Internetbeiträgen mittlerweile von einer Narzissmus-Epidemie die Rede. Autoren wie die US-Psychologin Jean Twenge werfen sogar einer ganzen Generation Überheblichkeit und Anspruchsdenken vor und begründen dies mit nachweisbar steigenden Narzissmuswerten, wie sie mit bestimmten Fragebögen ermittelt werden, etwa dem sogenannten Narcissistic Personality Inventory (NPI). Laut Twenge ist der Durchschnittswert seit den 1980er-Jahren ähnlich stark gestiegen wie das durchschnittliche Körpergewicht.
Als vor sieben Jahren ihr Buch "The Narcissism Epidemic" erschien, entbrannte unter Psychologen und Psychiatern ein Streit. Der Hauptkritikpunkt: Twenge habe lediglich den NPI-Fragebogen ausgewertet. Und der gilt nach Ansicht vieler Forscher mittlerweile als überholt. So sieht es auch Psychiater Röpke. Zwischen den Aussagen "Ich gehe gern in der Menge unter" und "Ich will im Mittelpunkt stehen" gebe es nun mal Spielräume. Diese kämen im NPI-Fragebogen mit seinen je zwei Antwortmöglichkeiten bei 40 Items kaum zum Ausdruck.
Zahlreiche Forscher machen sich deshalb mittlerweile dafür stark, den Narzissmus differenzierter zu sehen. Er könne zwar pathologisch werden, aber auch in einem gesunden Bereich bleiben, der nicht zwangsläufig schädlich und unsozial sein muss. Die entscheidende Frage also lautet: Wo verläuft die Grenze zwischen diesen Formen? Gibt es sie überhaupt, eine scharfe Grenze?
Eher nicht, sagt der amerikanische Psychologe Craig Malkin. In seinem vor Kurzem erschienenen Buch "Der Narzissten-Test" plädiert er dafür, sich Narzissmus auf einer Skala von 0 bis 10 vorzustellen. Dabei siedelt er die gesunden Narzissten bei den mittleren Werten an. Sie sehen optimistisch auf ihr Leben, besitzen ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl und können emotionale Unterstützung gut geben und annehmen. Sie verfolgen Ziele in ihrem Leben und können mit vertrauten Personen trotzdem über ihre Zweifel und Unsicherheiten sprechen. Sie sind ehrgeizig, aber nicht auf Kosten ihrer Beziehungen. Gesunde Narzissten besitzen nicht nur ein positives Bild von sich selbst, sondern auch von ihren Lieben. Dosiert kann ein Narzisst ein Team beflügeln und Gruppen mitreißen.
Außerdem hält Malkin den Drang, sich besonders zu fühlen, schlicht für menschlich. Er folgt dem österreichisch-amerikanischen Psychoanalytiker Heinz Kohut (1913 - 1981), dem zufolge Narzissmus dem Bedürfnis entspringt, sich selbst zu schützen. Gerade Jugendliche müssten während der Pubertät überzeugt davon sein, Großes vollbringen zu können. Das treibe sie an.
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Weshalb steht einer nach einer Pleite vor dem Abgrund, ein anderer hingegen wieder auf? Wieso landet einer am Ende einer großen Liebe im Suff, während der andere bald neuen Sinn im Leben findet? Die Antwort liegt in frühen Erfahrungen.
So wundert das Ergebnis einer Studie kaum, die der Psychologe Jonathon Brown von der University of Washington im Fachmagazin Personality and Social Psychology Bulletin publizierte. Er wertete Standard-Fragebögen aus, die über mehrere Jahrzehnte in verschiedenen Ländern ausgefüllt wurden und das Selbstwertgefühl erfassen sollten. Dabei zeigte sich ein klarer Trend: Die überwältigende Mehrheit der Probanden gab an, mehr bewundernswerte und weniger abstoßende Eigenschaften zu besitzen als 80 Prozent des eigenen Umfelds.
In der Sozialpsychologie wird dieses Phänomen als der "Besser-als-der-Durchschnitt-Effekt" bezeichnet. Vermutlich dient diese leichte Überlegenheitsillusion der psychischen Gesundheit. Menschen mit gesundem Narzissmus leben häufig glücklicher, geselliger und gesünder als realistischere Zeitgenossen. Zudem gibt es Hinweise, dass sie sogar besser mit Schicksalsschlägen und Traumata zurechtkommen. Das zeigte sich etwa bei Überlebenden des Bosnienkrieges.
Am linken Ende von Craig Malkins Spektrum liegen die sogenannten Echoisten. So nennt der Psychologe Menschen, die sich auf seiner Skala zwischen 0 und 2 bewegen. Sie leiden unter einem Narzissmusdefizit und stellen ihre eigenen Bedürfnisse hinter die anderer Menschen zurück.
Sie haben stets das Gefühl, keine eigenen Ansprüche stellen zu dürfen und können emotionale Unterstützung durch andere Menschen nur schwer annehmen. Bei den Werten 3 und 4 auf dem Spektrum findet man Menschen, die zwar hin und wieder zulassen können, etwa an Geburtstagen besonders behandelt zu werden, doch oft vertrauen sie ihren eigenen Fähigkeiten nicht und versuchen, möglichst unsichtbar zu bleiben. Auch das ist psychisch nicht sonderlich gesund.
Wirklich problematisch für ihr Umfeld und sich selbst sind jedoch jene Menschen, die zwischen 9 und 10 Punkten auf der Malkin-Skala erreichen. Es sind jene, die tatsächlich unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung gemäß dem psychiatrischen Diagnosekatalog leiden. Sie kennen keinerlei Mitgefühl, sabotieren andere und leiden unter Größenwahn. Etwa ein Prozent der Bevölkerung fällt unter diese Kategorie, schätzt der amerikanische Psychologe Joseph Burgo in seinem Buch "The narcissist you know". Die Ergebnisse decken sich mit einer Studie, die im Journal of Personality Disorders im Jahr 2010 erschien. Dabei wurden 40 000 Probanden auf Persönlichkeitsstörungen hin befragt. Hinweise auf eine ernsthafte narzisstische Persönlichkeitsstörung fanden die Forscher ebenfalls nur bei etwa einem Prozent der Befragten.
Diese Betroffenen bräuchten eigentlich alle dringend eine Psychotherapie, landen dort aber meist erst, wenn ihr Leben in Scherben liegt. Wenn der Partner sich trennt oder es Probleme am Arbeitsplatz gibt. Auch Alkoholismus, Spielsucht, Drogenmissbrauch sind bei ihnen verbreitet. "Sie empfinden es schon als Kränkung, dass sie Hilfe brauchen. Das lassen sie den Therapeuten auch spüren", sagt der Berliner Psychiater Stefan Röpke aus eigener Erfahrung. Oft brechen sie die Therapie ab, stellen die Kompetenz des Therapeuten infrage oder beleidigen ihn. "Es handelt sich um eine der am schwersten zu behandelnden Persönlichkeitsstörungen", sagt Röpke.
Der Psychologe Michael Marwitz hat zusammen mit dem Psychiater Claas-Hinrich Lammers eine Therapie speziell für Narzissten entwickelt. Dabei gelte es zunächst, den Narzissten für seine Flucht in das Überlegenheitsdenken zu sensibilisieren. Gleichzeitig versucht der Therapeut, gemeinsam mit dem Patienten einen Perspektivenwechsel einzuleiten, der den Narzissten befähigt, sich in die andere Person hineinzuversetzen. Wie erfolgreich eine Therapie verlaufe, hänge davon ab, ob der Narzisst bereit ist, sein Gefühl der Überlegenheit zu relativieren und andere Menschen an sich heranzulassen.
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Er stilisiert sich als Opfer oder macht einem ein schlechtes Gewissen
Ein besonderes Problem sind auch die sogenannten introvertierten Narzissten, schon weil kaum jemand von ihrer Existenz weiß. Sie wurden als Kinder oft kleingehalten, haben ein stark schwankendes Selbstwertgefühl. Auch wenn sie sehr selbstsicher wirken, fühlen sie sich oft wertlos. Verletzt den latenten Narzissten jemand, sagt er nicht "Das macht mich traurig, du tust mir weh." Er zieht sich zurück. Oder er bestraft indirekt mit Liebesentzug, stilisiert sich als Opfer oder macht einem ein schlechtes Gewissen.
Auch Brüllen und Schreien gehört zu seinem Repertoire. Es geht aber auch subtiler. So können Narzissten zu einer Leistung ihres Gegenübers beiläufig und in durchaus freundlichem Ton sagen: "Nicht schlecht, aber mach dir keine falschen Hoffnungen." Spürt das Gegenüber Wut in sich aufsteigen und konfrontiert den Narzissten mit der Frage, warum er sich keine falschen Hoffnungen machen soll, winkt dieser ab. Und kontert mit: "Du bist heute aber dünnhäutig." Latente oder verdeckte Narzissten verstehen es, auf subtile Art und Weise die Begeisterung anderer Personen zu zerstören.
Gerade am Arbeitsplatz hat das mitunter üble Folgen. Während Menschen mit einem gesunden Selbstwertgefühl zugeben können, dass sie einen Fehler gemacht haben, fühlen sich Narzissten als ganze Person angegriffen. Stoßen sie auf Einwände oder Widerstände, schieben sie anderen Menschen die Schuld zu, stellen die Fähigkeiten der Kollegen infrage, beleidigen ihr Gegenüber, schmälern dessen Leistungen, schließen es aus, oder sie verkaufen fremde Ideen als ihre eigenen.
Was also tun, wenn die eigene Chefin eine Narzisstin oder der Kollege ein Narzisst ist? In seinem Buch schlägt Craig Malkin verschiedene Strategien vor. Erstens: Jede Beleidigung dokumentieren. Zweitens: Immer zum Sachthema zurückkehren. Drittens: Intrigante Winkelzüge abwehren. Wenn Kollegen oder der Chef plötzlich Entscheidungen kritisieren, die zuvor alle begrüßt haben, Gegenfrage stellen: Warum kommen Ihnen jetzt diese Bedenken? Viertens: Positives Verhalten loben.
Schließlich gibt es auch Momente, in denen sich Narzissten sozialer verhalten. Diese Augenblicke gilt es würdigend hervorzuheben und gleichzeitig mit dem Erfolg des Narzissten verknüpfen. "Danke für das Feedback. Wenn Sie mir sagen, dass ich etwas gut gemacht habe, motiviert mich das und ich arbeite effizienter." Handelt es sich beim eigenen Chef jedoch um einen Narzissten im Neuner- oder Zehnerspektrum, werden auch diese Strategien wenig nützen.
Bevor man jedoch eine Beschwerde bei einem Unternehmen einreicht, sollte man abschätzen, wie stark die Firmenkultur selbst von Narzissmus geprägt ist. Die Chancen, angehört oder geschützt zu werden in einem Umfeld, in dem hochgradiger Narzissmus belohnt wird, sind sehr gering. Die Münchner Psychologin Bärbel Wardetzki, die das Buch "Vom klugen Umgang mit narzisstischen Chefs, Kollegen und Mitarbeitern" herausgebracht hat, sagt: "Manchmal kann es klüger sein, selbst zu gehen."