Wegsperren ist noch immer eine beliebte Losung, wenn es um Straftäter geht. Wegsperren allein ist aber zugleich die schlechteste Lösung. Denn: Etwa acht von zehn Insassen von Justizvollzugsanstalten in Deutschland leiden unter mindestens einer psychischen Erkrankung. Vor allem die Kombination von Persönlichkeitsstörungen und Sucht ist dabei gefährlich. Sie erhöht das Risiko für eine neue Straftat, wenn die Haftzeit um ist, warnen Psychologen und Psychiater. Eine Behandlung sei hier nicht nur nötig, sondern diene auch dem Schutz der Gesellschaft.
Doch nur einzelne Haftanstalten haben eine Abteilung für Psychiatrie, und nur selten kommen externe Therapeuten zur Behandlung in die Einrichtung. Doch auch für Inhaftierte ohne psychische Erkrankung fordern Experten mehr psychologische und soziotherapeutische Betreuung, um die Zahl der Rückfälle zu senken. Konservative fordern hingegen vor allem das Wegsperren. Straftäter-Therapie bringt doch nichts und kostet viel, so die gängige Argumentation.
Diese kommt nicht von ungefähr. In den 1970er-Jahren veröffentlichten Forscher mehrere Übersichtsarbeiten zu Straftäter-Therapien. Ihr ernüchterndes Fazit: Nichts wirkt. 40 Jahre später sind forensische Psychologen und Psychiater allerdings deutlich optimistischer. Zu Recht.
Die deutschen Wissenschaftler Martin Schmucker von der Universität Erlangen-Nürnberg und Friedrich Lösel, der an der University of Cambridge in Großbritannien forscht, haben vor Kurzem eine Meta-Analyse erstellt, die zeigt, dass die Therapie von Sexualstraftätern deren Rückfallrisiko um 26 Prozent senkt. Das ergeben Berechnungen aus Daten von mehr als 10 000 Inhaftierten. Je nachdem, wie gut die Behandlung umgesetzt wurde und wie sauber die Studien durchgeführt wurden, gibt es auch Erhebungen, die von bis zu 50 Prozent weniger Rückfällen berichten.
"Das ist deutlich weniger, als Psychotherapie bewirkt, wenn sie außerhalb von Gefängnismauern und bei Patienten angewandt wird, die eine psychiatrische Störung aufweisen, aber keine Straftaten begangen haben", sagt der forensische Psychiater Christian Huchzermeier vom Institut für Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein. Bei Gewaltstraftätern sei die Therapie ungefähr so effektiv wie das Medikament ASS, wenn es zur Vorbeugung von Erkrankungen der Herzkranzgefäße eingesetzt wird. "Trotzdem zweifelt keiner an der Wirkung des Medikaments und seiner Berechtigung in der Prävention", sagt Huchzermeier.
Auch gibt es Gründe, warum die Psychotherapie hinter Gittern nicht mit der außerhalb mithalten kann. "Vergleichen Sie mal den Behandlungserfolg einer leicht depressiven Patientin mit großer Familie, Freunden und finanziellem Rückhalt mit der eines Mannes, der in Haft sitzt, mittel- und arbeitslos ist, keinen Kontakt zu seiner Familie hat und dessen Freunde zum Teil auch kriminell sind", sagt Psychologe Lösel. Zudem berge der Vollzug eine Ansteckungsgefahr: "Die Inhaftierten beeinflussen einander oft negativ, lernen zum Beispiel kriminelle Techniken, die sie nach ihrer Haft anwenden." Lösels Übersichtsarbeiten bestätigen: Sexualstraftäter, die innerhalb einer Gemeinde lebten und dort psychotherapeutisch betreut wurden, hatten geringere Rückfallraten als jene, die in Haft behandelt wurden.
Dennoch: Straftäter-Therapie wirkt. Da sind sich Forscher weltweit einig. Unklar ist aber, welche Methode bei wem unter welchen Bedingungen am besten wirkt. Klar ist immerhin, dass Strafen wenig bringen. Generell erhöhen Gefängnisstrafen die Rückfallraten von Straffälligen, lange Haftstrafen umso mehr. Ein richtiger Prozess statt außergerichtlicher Verhandlungen bei minderschweren Delikten, harte Urteile und auch Entschädigungsforderungen machen eine neue Straftat ebenfalls wahrscheinlicher. Die Rückfallrate steigt dann um 14 Prozent. Auch der Versuch, jugendliche Straftäter durch ein paar Tage Haft abzuschrecken, bewirkt Studien zufolge eher das Gegenteil. Die Schock-Inhaftierten begehen ein Viertel mehr Straftaten als jene, denen die Maßnahme nicht auferlegt wurde. Auch die sogenannten Boot Camps sind nicht von Erfolg gekrönt: Durch Disziplinierung und Drill erreichen Behörden entweder nichts oder mehr Kriminalität. Bewährungsmaßnahmen und eine engmaschige Betreuung erwiesen sich hingegen als hilfreich.
Die besten Ergebnisse erzielen jedoch die Therapien. Am effektivsten ist die chirurgische Kastration von Sexualstraftätern, die in Deutschland auf freiwilliger Basis noch erlaubt ist. Sie senkt das Risiko für neue Übergriffe bis zu 15-mal mehr als andere Behandlungsmethoden. Aber: Die Männer, die sich dazu entschließen, sind rar und meist nicht die gefährlichen. Die Methode wird heutzutage zudem weitestgehend nicht mehr angewandt. Die sogenannte chemische Kastration mit Hormonpräparaten, die den Testosteron-Spiegel senken, ist ebenfalls wirksam. Die Gefahr hierbei: Sobald der Straftäter die Medikamente absetzt, kehrt sein Hormonhaushalt wieder auf den natürlichen Level zurück. Sein Trieb kann in vollem Ausmaß zurückkehren. Durch die Präparate hat er aber nicht gelernt, ihn zu kontrollieren, warnen Experten.
Deshalb klammern zahlreiche Forscher die beiden Ansätze in ihren Studien aus. Sie empfehlen psychosoziale Methoden, insbesondere kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren. Darin bearbeiten die Teilnehmer Denk- und Verhaltensmuster. Durch die Analysen der Tat und eigener Gedanken sollen sie erkennen, welche Eigenschaften sie zum Delikt gelenkt haben. Sie lernen zudem, mit Fantasien umzugehen, damit diese nicht mehr zu drastischen Handlungen führen.
Besonders wirksam sind Verfahren, die das Rückfallrisiko des Täters und seine persönlichen Behandlungsbedürfnisse berücksichtigen. Sehr gefährliche Straftäter etwa brauchen längere und intensivere Therapieangebote. Manch einer hat ein Suchtproblem, das in die Kriminalität führte, ein anderer ist sehr impulsiv und hat deshalb eine Straftat begangen.
Vier von zehn JVA-Insassen waren immerhin selbst Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch, oft in der Kindheit oder Jugend. Aufgearbeitet haben sie das meist nicht. Ebenso bedacht werden sollte: Ist der Täter minderbegabt, kann er seine Handlungen reflektieren oder braucht er vor allem praktische Übungen statt Gesprächen? Missachten Behandler die Grundsätze, riskieren sie, an den Straftätern vorbeizutherapieren und deren Rückfallrisiko sogar zu erhöhen. Je enger die Behandlung sich jedoch an den Prinzipien orientierte, umso besser waren die Ergebnisse.
"Dabei ist es oft egal, ob ein Insasse durch Auflagen zur Behandlung gezwungen wurde oder von sich aus eine Änderung anstrebt", sagt Friedrich Lösel. Untersuchungen hätten gezeigt, dass die Behandlung auch bei zunächst wenig motivierten Tätern wirken kann. Der Psychotherapeut Huchzermeier erklärt: "Man geht heute davon aus, dass der Wunsch, sich positiv zu verändern, in jedem prinzipiell angelegt ist und hervorgerufen werden kann." Auch bei therapieunwilligen Straftätern könne es gelingen, eine Veränderungsbereitschaft zu erwirken, wenn man spezielle psychotherapeutische Techniken zum Motivationsaufbau einsetzt.
In Deutschland verlangt seit 1998 ein Gesetz, dass Gewalt- und Sexualstraftäter mit einer Gefängnisstrafe von mehr als zwei Jahren eine Therapie machen müssen. Es gibt zudem sozialtherapeutische Anstalten, in die sich JVA-Insassen verlegen lassen können. Für Straftäter, die während der Tat wegen einer psychischen Erkrankung nicht zurechnungsfähig waren, gibt es speziell gesicherte Psychiatrien, den Maßregelvollzug. Erreicht werden damit allerdings noch lange nicht alle. Die Leiter der Psychotherapeutischen Fachambulanzen Nürnberg, München und Würzburg, die Sexualstraftäter ambulant behandeln, berichten, dass vier von zehn ihrer Patienten in Haft keinerlei Therapie erhalten hätten.
Forschern und Therapeuten ist der Status quo in Deutschland nicht genug. "Strafen laufen ab. Etwa 99 Prozent der Inhaftierten kommen irgendwann auch wieder heraus. Dann ist die Frage: behandelt oder nicht?", sagt der forensische Psychiater Frank Urbaniok, Leiter des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes (PPD) im Amt für Justizvollzug im Schweizer Kanton Zürich und Forscher an der Universität Konstanz. Klar sei: Von allein ändere sich ein Straftäter in Haft selten.
Urbaniok fordert daher, dass bereits zum Gerichtsprozess Gutachten in Auftrag gegeben werden, die das Risiko eines Täters untersuchen. Bislang wird das hierzulande am Ende der Haftzeit oder vor Lockerungsmaßnahmen geprüft. Wer zur Verhandlung ein mittleres oder hohes Rückfallrisiko habe, müsse in Haft an einer Therapie teilnehmen, wenn dadurch die Gefahr eines weiteren Deliktes gesenkt werden könne. Der PPD in der Schweiz mache mit einem solchen Vorgehen gute Erfahrungen. Die Rückfallraten von Urbanioks Therapieteilnehmern sind um bis zu 80 Prozent niedriger als die von nicht behandelten Straftätern.
Huchzermeier sieht das ähnlich: "Meine Utopie ist, dass die JVA keine reine Verwahranstalt mehr ist, sondern alle Vollzugseinrichtungen therapeutische Angebote machen, in denen Psychiater und Psychologen, Sozialarbeiter, aber auch die JVA-Bediensteten an der prosozialen Entwicklung der Straftäter mitwirken." Wir lebten dann in einer hochdifferenzierten Gesellschaft, die delinquente Personen nicht nur ausgrenzt, sondern sich Gedanken macht, wie Straftäter wieder ins normale Leben einbezogen werden können.
Bleibt schließlich die größte Sorge von Therapiegegnern: die Kosten. Die Sorge ist unberechtigt: US-Forscher haben kalkuliert, dass jeder Dollar, der in eine wirksame Behandlung gesteckt wird, dem Staat 7,55 Dollar erspart.