Es schien nur so ein nettes Foto aus dem Familienalbum zu sein, die 14-jährige Tante Marianne mit ihrem damals vier Monate alten Neffen Gerhard Richter auf dem Schoß, sie lächelt scheu. Der heute weltberühmte Maler nahm es als Vorlage für sein gleichnamiges Bild, das er 1965 in seinem bekannten fotorealistisch-verwischten Stil verfertigte. Ähnlich harmlos wirkt Richters ebenfalls Mitte der 60er-Jahre entstandenes Gemälde "Familie am Meer", das seine erste Ehefrau als Kind beim Badeurlaub an der Ostsee zeigt, gemeinsam mit ihren Eltern und dem Bruder.
Erst 40 Jahre später recherchierte ein Journalist die Geschichten hinter den beiden Bildern, die dem Maler selbst gar nicht bekannt waren: Marianne Schönfelder, mutmaßlich an Schizophrenie erkrankt, wurde 1938 zwangssterilisiert und 1945 in der Tötungsanstalt Großschweidnitz ermordet. Richters Schwiegervater Heinrich Eufinger, ein Gynäkologe, war als Direktor der Städtischen Frauenklinik in Dresden verantwortlich für Hunderte Zwangssterilisationen. Welch grausame Ironie: Opfer und Täter des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms finden sich in einer Familie vereint. Beim Blättern im Familienalbum öffnen sich die Abgründe der deutschen Geschichte.
Mit gutem Grund setzen die Kuratoren der Wanderausstellung "Erfasst, verfolgt, vernichtet: Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus" auf die Überzeugungskraft der Bilder und Schicksale und präsentieren auch eine Reproduktion von Gerhard Richters Gemälde.
Die Zahlen und Fakten sind ja schon länger bekannt: Bis zu 400 000 kranke und behinderte Menschen wurden in der Nazi-Zeit zwischen 1933 und 1945 in Deutschland zwangssterilisiert, mehr als 200 000 systematisch ermordet. In Kooperation mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Stiftung Topographie des Terrors hat die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) deshalb diese Ausstellung in Auftrag gegeben. Sie zeigt mit Fotos, Briefen und Dokumenten, dass sich die deutsche Psychiatrie endgültig an die Aufarbeitung ihrer Geschichte gemacht hat. Sie will jene Opfer ins Zentrum rücken, die lange am Rande des öffentlichen Interesses und Gedenkens standen.
Mit einer "Fotoalbum" genannten Abteilung beginnt in logischer Konsequenz der Rundgang. Ganz normale Schwarz-Weiß-Porträts, wie sie jeder im Keller oder auf dem Dachboden finden kann, zeigen die Opfer: Büroangestellte, Hausfrauen, Kinder, ein paar Künstler, Krankenschwestern. Von vielen weiß man heute nicht mehr viel mehr, als wann und wo sie ermordet wurden, weil sie auf irgendwelchen Listen auftauchten - in Hadamar, Grafeneck, Sobibor, Pirna-Sonnenstein oder Kaufbeuren-Irsee, in Häusern, die eigentlich der Heilung und Pflege dienen sollten und dann zu Mordanstalten mutierten.
Ganz normal scheinen auch im Anschluss die Bilder der Täter, der ärztlichen Leiter und schrecklichen Juristen, der Oberschwestern und Krankenpfleger. Autoritär schauen viele aus, aber ihre Biografien kennt man gut. Viele von ihnen gehörten schon vor der Nazi-Zeit zur Elite des Landes, nicht wenige führten ihre Karriere nach 1945 fort. Besonders Valentin Faltlhauser, der Direktors der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, präsentiert sich dem Fotografen als lieber Opa, der seine Enkelin auf dem Arm hält. Er sollte sich als einer der schlimmsten Ärzte erweisen.
So widerlegt die Berliner Ausstellung schon gleich zu Anfang, was der Medizinhistoriker Volker Roelcke von der Universität Gießen einen der zentralen Mythen im Umgang mit der Medizin im Nationalsozialismus nannte, die Annahme nämlich, "dass medizinische Verbrechen von einigen wenigen fanatischen Nazi-Ärzten begangen wurden".
Widerlegt wird auch der zweite von Roelcke formulierte Mythos, "dass die Programme der Zwangssterilisation und der Patiententötungen der Ausdruck einer 'Ideologie' gewesen seien, die wenig oder gar nichts mit dem zeitgenössisch aktuellen Stand des medizinischen Wissens und Handelns zu tun gehabt hätten."
Genau das Gegenteil war der Fall, wie die Ausstellung belegt. Das Euthanasieprogramm der Nazis war die Fortsetzung der Idee der Eugenik mit den Mitteln des Massenmords. Doch das zugrunde liegende Gedankengebäude war seit Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Ländern verbreitet; die Vorstellung, dass die menschliche Reproduktion kontrolliert und gesteuert werden muss, um den erbbiologischen Niedergang zu verhindern. Von dort war es nicht mehr weit zur Idee vom lebensunwerten Leben: "Wissenschaftler formulierten diese Idee, Medien verbreiteten sie", schreiben DGPPN-Präsident Frank Schneider und Kuratorin Petra Lutz im Ausstellungskatalog. Noch 1934 wanderte eine im Deutschen Hygiene-Museum produzierte Ausstellung durch die USA, in der die rassenhygienischen Ideen der Nazis beworben wurden - angeblich mit großem Erfolg.
Bereits im Januar 1934 trat das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" in Kraft, gefolgt von einer Welle von Zwangssterilisierungen, meist aufgrund der damals üblichen Diagnosen "Schwachsinn", Epilepsie oder Schizophrenie. Im Herbst 1939 unterschrieb Hitler das Ermächtigungsschreiben, wonach "unheilbar Kranken, bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann".
Mit dem Schreiben startete die "Aktion T4", bei der in einer ersten Welle 1940/41 mehr als 70 000 meist psychisch kranke Menschen vergast und verbrannt wurden, darunter 5000 Kinder und Jugendliche in sogenannten Kinderfachabteilungen - mitten in Deutschland rauchten die Schlote. Die Gutachter, Psychiater und Neurologen, viele von ihnen Professoren, entschieden mit einem Kreuzchen auf einem Formular über den Tod der Patienten, meist hatten sie diese noch nicht einmal persönlich gesehen.
Wieder illustrieren Fallgeschichten das Leiden hinter den Zahlen. Gut dokumentiert ist etwa das Schicksal der 1916 geborenen Magdalene Maier-Leibniz, Tochter eines Professors für Statik der Universität Stuttgart. Das hübsche, blonde Mädchen kam mit 16 Jahren ins Internat Salem, entwickelte dann Auffälligkeiten, die Jahre später als Schizophrenie diagnostiziert wurden. 1938 wurde sie in der Privatklinik Kennenburg untergebracht, dann aber ohne Einwilligung der Familie über mehrere Stationen in die Gasmordanstalt Hadamar verlegt und dort am 22. April 1941 umgebracht. Die Eltern erhielten wenige Tage später eine Nachricht, wonach die Tochter an einer Lungentuberkulose gestorben sei. Die Urne mit den sterblichen Überresten stehe zur Verfügung, "die Überführung erfolgt gebührenfrei".
So gut wie kein Klinikleiter, kein Lehrstuhlinhaber widersetzte sich dem Morden. Einer der wenigen Kritiker war Hermann Grimme, Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Hildesheim, der sich weigerte, Listen für die T4-Aktionen zu erstellen. Er wurde zwei Jahre später wegen anderer Streitigkeiten verhaftet und abgesetzt, konnte dann aber als niedergelassener Psychiater weiterarbeiten. Das zeigt: Ein bisschen Widerstand wäre schon möglich gewesen.
Ein wenig bemühten sich die Kirchen. Die Vertreter der protestantischen Inneren Mission hatten zwar den Zwangssterilisationen noch zugestimmt, nicht aber den Morden. Den offenen Protest wagten sie nicht, konnten aber in vertraulichen Verhandlungen die Patienten einzelner Anstalten retten. Es war dann der populäre katholische Bischof Clemens August von Galen, der am 3. August 1941 in der Lamberti-Kirche in Münster offen von Mord sprach. Die Ausstellung zeigt eine Abschrift seiner Predigt, enge Schreibmaschinenschrift auf rosa Papier. Sie kursierte schon bald im Land und trug wohl mit dazu bei, dass bereits am 24. August 1941 die Aktion T4 gestoppt wurde.
Doch das Töten ging in unauffälliger Weise bis Kriegsende weiter, die Mordraten nahmen sogar noch zu. Und ausgerechnet der bereits erwähnte Valentin Faltlhauser, vor der Nazi-Zeit ein engagierter Reformpsychiater, ersann neue, perfide Mordmethoden. Er entwickelte eine fettfreie "E-Diät", bei der Menschen binnen drei Monaten den Hungertod starben. Bis zu 1600 Menschen krepierten in Kaufbeuren an Hunger und Gift, darunter mehr als 200 Kinder. Faltlhauser wurde 1949 "wegen Anstiftung zur Beihilfe am Totschlag" zu einer Gefängnisstrafe von drei Jahren verurteilt, die er nie antreten musste. Zu sehen ist ein Zettel, auf dem er mit schnellen Strichen den Stammbaum einer Familie skizziert hat. Als Mitglied des Erbgesundheitsgerichts entschied er schon mal in neun Minuten darüber, ob ein Mensch Kinder haben durfte.
Das aber vielleicht traurigste Exponat der Ausstellung ist ein Brief, den ein Mann namens Bruno O. am 30. August 1943 an den Chefarzt der evangelischen Heil- und Pflegeanstalt Wittekindshof geschrieben hat: "Alle Hoffnungen auf Gesundung sind entschwunden, und man würde doch nur Gutes tuen, um so ein Menschenkind, welches nichts von der Welt weiß, nicht das geringste in sich aufnehmen kann doch nur Mitmenschen ewig zur Last fällt, eine Giftspritze verabreichen würde", schreibt O. "Für mich und meine Frau könnte es nur ein Erlös sein um hier die unnütz hinausgeworfenen Gelder meinen beiden kerngesunden Jungens zugute kommen zu lassen."
Es ist die Bitte eines Vaters um die Ermordung seines Sohnes.
Die Wanderausstellung "Erfasst, verfolgt, vernichtet. Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus" wird vom 26. März bis zum 13. Juli 2014 im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors in Berlin gezeigt, täglich von 10 bis 20 Uhr.