Psychische Erkrankungen bei Flüchtlingen:"Eine gewaltige Herausforderung"

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Flüchtlinge erleben auf ihrem Weg oft extreme Ereignisse, die posttraumatische Belastungsstörungen auslösen können. (Foto: Kostis Ntantamis/AP)

Schlafstörungen, Herzrasen, Unruhe: Viele Flüchtlinge in einem Dresdner Camp fielen durch psychische Probleme auf. Der Psychiater Enrico Ullmann hält Sprechstunden in dem Lager.

Von Christian Weber

Der Kinder- und Jugendpsychiater Enrico Ullmann arbeitet unter anderem an der Uniklinik Dresden. Er forscht, wie die Folgen psychischer Traumatisierungen über die Generationen weitergegeben werden.

SZ: Sie und Ihr Team haben in einem Flüchtlingscamp in Dresden eine eigene psychiatrische Sprechstunde eingerichtet . Wie sind Sie darauf gekommen?

Enrico Ullmann: Den Betreibern des Camps war aufgefallen, dass viele Flüchtlinge in der Nacht schrien, unruhig herumliefen, unter Herzrasen und Flashbacks litten. Da bot es sich an, mal genauer nachzuschauen, was den Leuten fehlt.

Wie Sie jetzt in einer Studie berichten, litt knapp die Hälfte Ihrer Patienten an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Hat Sie das überrascht?

Nein, aus der Literatur ist bekannt, dass extreme Ereignisse wie Krieg, Folter und Vertreibung bei ungefähr 50 Prozent der Menschen zu solchen Störungen führen.

Haben Kinder besondere Probleme?

Gerade diese unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlinge sind besonders gefährdet. Andere haben schlimme Erfahrungen etwa als Kindersoldaten gemacht.

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Bei womöglich bis zu einer Million Flüchtlingen in diesem Jahr müssen wir also mit Hunderttausenden psychisch schwer belasteten Menschen rechnen?

Ja, es ist eine gewaltige Herausforderung, der man sich hier noch gar nicht so richtig bewusst geworden ist.

Wie soll das Gesundheitssystem das Problem bewältigen? Die Psychotherapeuten haben schon so genug zu tun.

Sie alleine werden es nicht schaffen. Aber wir sollten nicht vergessen, dass allen Ärzten in ihrer Ausbildung psychiatrische Grundkenntnisse vermittelt werden. Sie sollten zumindest in der Lage sein, eine psychische Störung zu diagnostizieren.

Eine psychiatrische Begutachtung braucht viel Zeit.

Stimmt, insbesondere wenn man die Befragung per Dolmetscher machen muss! Selbst ein erfahrener Psychiater braucht etwa 30 bis 45 Minuten, um die wichtigsten Erlebnisse und Symptome eines Patienten abzufragen. Umso dringender ist es, dass Forschung an Biomarkern für psychische Störungen vorangetrieben wird, die ein schnelleres Screening erlauben würden.

Vor allem aber können normale Ärzte keine Psychotherapie ausüben.

Aber sie können zumindest die medikamentöse Akutversorgung übernehmen, also etwa Beruhigungsmittel geben, wenn jemand psychomotorisch sehr agitiert ist. Traumaverarbeitende Therapien sind natürlich langwieriger und schwieriger. Selbst die meisten Psychotherapeuten in Deutschland haben in diesem Feld ja keine besondere Expertise.

Also müssen die Betroffenen warten.

Das wäre schlecht, dann kommt es nämlich zu chronischen Verläufen. Und wie wir wissen, können sich extreme Traumatisierungen über epigenetische Prozesse bis in die Enkelgeneration auswirken.

Was kann man dann tun?

Man sollte sich um die am stärksten Betroffenen zuerst kümmern. Ansonsten ist es wichtig, dass die Flüchtlinge eine sichere Umgebung erleben, wo sie sich in eine Gruppe eingebettet fühlen. Soziale Unterstützung ist ganz wichtig für die psychische Widerstandskraft. Umso schlimmer ist es deshalb, wenn hasserfüllte Demonstranten am Zaun von Camps stehen. So etwas kann retraumatisieren.

Die psychische Folgelast der Flüchtlingsströme wird uns vermutlich noch lange beschäftigen, oder?

Mit Sicherheit. Selbst wenn man eine optimale psychiatrische Versorgung hätte, könnte man den Schmerz von Menschen, die nächste Angehörige im Bombenhagel haben sterben sehen, nicht einfach wegtherapieren. Man muss den Menschen ihre Trauer erlauben, auch wenn es lange Zeit dauert.

© SZ vom 05.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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