Prognosen zu Demenz:Heikles Bedrohungsszenario

Zweifellos nimmt die Zahl der Demenzerkrankungen zu. Doch es ist zu kurz gedacht, stetig neue neue epidemische Ausmaße zu beschwören.

Von Werner Bartens

Das Bedrohungsszenario kann gar nicht dramatisch genug ausfallen. Von einer globalen Epidemie ist die Rede, die Zahlen der letzten Schätzung aus dem Jahre 2009 sind nach oben korrigiert worden. Vergangenen Woche wurde sogar der G-8-Demenz-Gipfel ausgerufen. Tatsächlich sind die Prognosen besorgniserregend, die von Alzheimer's Disease International verbreitet wurden: Demnach werden im Jahr 2030 weltweit 76 Millionen Menschen mit Demenz leben. Die Schätzung vor drei Jahren lag bei 66 Millionen Betroffenen. Im Jahr 2050 sollen es gar 135 Millionen Menschen mit Demenz sein, statt 115 Millionen, wie 2010 noch angenommen wurde.

Demenz ist tatsächlich eine weltweite Herausforderung, zumal die korrigierten Prognosen weitgehend darauf zurückzuführen sind, dass bereits jetzt 58 Prozent der derzeit 44 Millionen Menschen mit Demenz in einkommensschwachen Ländern leben und dort weniger Bewusstsein für das Leiden sowie weniger gesundheitliche und soziale Betreuungsmöglichkeiten vorhanden sind als in den Industrienationen. Im Jahr 2050 werden 71 Prozent der Demenzkranken in ärmeren Regionen der Welt leben, so die Schätzung.

Es braucht einen Systemwechsel

Trotzdem sind solche Vorhersagen heikel. "Wenn Gesundheitsexperten Prognosen austauschen und feststellen, dass Demenz die Geißel des 21. Jahrhunderts ist, so helfen sie damit nicht den heute und zukünftig Betroffenen", sagt Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. "Seit Jahren gibt es wissenschaftliche Standards für die Versorgung von Demenzkranken. Was fehlt, ist ihre praktische Umsetzung, denn die verlangt einen Systemwechsel bei der Gesundheitsversorgung von Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz. Immer noch werden Ärzte darauf trainiert, Krankheiten zu heilen. Es wird aber auch in absehbarer Zukunft keine Pille gegen Demenz geben."

Anteil in der typischen Altersgruppe rückläufig

Werden stetig die epidemischen Ausmaße der Demenz beschworen, gerät zudem in den Hintergrund, dass der Anteil der Betroffenen in der typischen Altersgruppe offenbar rückläufig ist. Gesundheitswissenschaftler um Eric Larson beschreiben im aktuellen New England Journal of Medicine, dass Studien aus Nordamerika und Europa diesen Trend bestätigen (Bd. 369, S. 2275, 2013).

So ist in den USA der Anteil der Dementen unter den Menschen jenseits der 70 in der Dekade von 1993 bis 2003 von 12,2 auf 8,7 Prozent zurückgegangen. Für Europa gibt es ähnliche Befunde; als Gründe werden gesünderer Lebensstil, höherer Bildungsgrad und weniger Schlaganfälle angegeben. Weil die Menschen aber immer älter werden, steigt die absolute Zahl der Betroffenen weiter.

"Wir untersuchen die Entwicklung von Krankheiten ja nicht als Rechenübung, sondern um herauszufinden, wie wir negative Folgen für den Einzelnen und die Gesellschaft minimieren können", sagt Eric Larson. Die Erfolge durch bessere Bildung und höheren Lebensstandard seien ermutigend. Zudem brauche es mehr Verständnis für die Situation der Alten und Dementen. "Wann endlich wird die Gesellschaft so tolerant sein, kognitive Einschränkungen als Teil der Lebenswirklichkeit zu erkennen?", fragt Eugen Brysch. " Wir brauchen Begleitung und Hilfe statt Ausgrenzung und Abschiebung."

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