Medizin:Training vor der OP

Seniorenheim in Buxtehude, 2018

Kann nie schaden - Fitnesstraining im Seniorenheim.

(Foto: Natalie Neomi Isser)
  • Seit Jahren schon versuchen Ärzte ihre Patienten nach einer OP schnell wieder auf die Beine zu bringen.
  • "Wir möchten herausfinden, welche Übungen bei welchen Patienten besonders effektiv sind", sagt der Orthopäde Lothar Seefried.
  • Leistungssportler trainieren bereits seit Jahren vor einer Operation die Muskeln und sorgen dafür, dass die Gelenke beweglich sind, etwa bei Verletzungen im Knie.

Von Astrid Viciano

Für Maria Naumann haben die Zuschauer einen lilafarbenen Teppich ausgerollt. Fast wie ein Filmstar läuft die Patientin in kleinen Trippelschritten vorsichtig über den Stoff. Darin verborgene Drucksensoren messen, wie groß und gleichmäßig ihre Schritte ausfallen, ein Monitor zeigt ihre Fußabdrücke in Violett und Grün. Unsicher läuft die 69-Jährige, leicht gebeugt, das rechte Bein hat sie etwas nach innen gedreht. "Ich habe Angst zu stürzen", sagt Naumann, die eigentlich ganz anders heißt, bei ihrem Besuch in der Orthopädischen Klinik des König-Ludwig-Hauses in Würzburg.

Die Patientin übt nicht etwa fürs Rampenlicht. Sie möchte sich vorbereiten auf ihre große Operation im November. Ein künstliches Hüftgelenk soll das von Arthrose zerstörte ersetzen, Maria Naumann kann die Schmerzen nicht länger ertragen. Damit sie sich nach dem Eingriff so rasch wie möglich erholt, beginnt sie im Rahmen eines Pilotprojekts der Klinik bereits jetzt dafür zu trainieren, drei Monate vor ihrer Operation.

Seit Jahren schon versuchen Ärzte, ihre Patienten nach einer OP schnell wieder auf die Beine zu bringen. Möglichst am Folgetag des Eingriffs beginnen die Operierten gemeinsam mit ihren Physiotherapeuten, bereits an ihrer Muskelkraft und Beweglichkeit zu arbeiten. Was aber, wenn sie schon vor dem Eingriff mit dem Muskeltraining beginnen würden? Wenn Patienten mit einem lädierten Kreuzband bereits vor der Operation ihre Beinmuskeln stärken, solche mit Arthrose trotz der zerstörten Gelenkflächen ihre Beweglichkeit trainieren? Und wenn sogar Menschen mit einer Krebserkrankung ihre Ausdauer trainieren, obwohl der Tumor noch gar nicht entfernt worden ist? Prähabilitation nennen Ärzte diesen innovativen Ansatz, in dem sie präventive und rehabilitative Aspekte vor einem Eingriff kombinieren.

"Das Interesse der Kollegen aus verschiedenen Fachbereichen ist groß"

Vor zwei Jahren fand der erste Weltkongress zur Prähabilitation in Montréal statt, in einem kleinen Kreis von Interessierten. Im vergangenen Jahr kamen bereits 450 Teilnehmer aus aller Welt nach Eindhoven, in diesem Jahr fand die Veranstaltung im British Museum in London statt und war komplett ausgebucht. "Das Interesse der Kollegen aus verschiedenen Fachbereichen ist groß", berichtet Gerrit Slooter, Chirurg am Medizinischen Zentrum Máxima in Eindhoven, der den Weltkongress mit ins Leben gerufen hat. Im vergangenen Monat wurde auch die Internationale Gesellschaft für Prähabilitation gegründet, Slooter ist ihr erster Präsident.

Noch ist die Prähabilitation eine junge Disziplin, auch die Würzburger Patientin Maria Naumann hatte vorher noch nie davon gehört. Für die Aufnahme in die Pilotstudie hat sie sich aufwendigen Funktionstests unterzogen. Wie es um ihre Koordination steht, wollten die Orthopäden wissen, maßen ihre Kraft, ihre Lungenfunktion. Möglichst viele Testergebnisse möchten die Mediziner vor und nach Ende des Prähabilitationsprogramms miteinander vergleichen.

"Wir möchten herausfinden, welche Übungen bei welchen Patienten besonders effektiv sind", sagt der Orthopäde Lothar Seefried, der die klinische Studieneinheit am König-Ludwig-Haus leitet. Nach Abschluss des Pilotprojekts möchte der Mediziner eine multizentrische Studie durchführen, mit mehreren Hundert Patienten. Gerade bei älteren, teils gebrechlichen Menschen sollen jene Trainingseinheiten zum Einsatz kommen, die ihre Leistungsfähigkeit schon vor der Operation gezielt verbessern. "Allerdings müssen wir auch aufpassen, dass die Übungen für die jeweiligen Patienten geeignet sind, sie sich nicht überlasten", sagt Seefried.

Auch wenn das Prinzip einleuchtet, ist die Prähabilitation noch nicht gut untersucht. Eine Übersichtsarbeit im vergangenen Jahr ergab immerhin, dass körperlich leistungsschwache Patienten mit einer Krebserkrankung des Magens oder der Speiseröhre nach einer Operation öfter an Komplikationen wie einer Lungenentzündung erkrankten als andere. Doch fehlt es noch an qualitativ hochwertigen wissenschaftlichen Studien, die den Effekt einer Prähabilitation gemessen haben.

"Uns liegen viele kleine Untersuchungen vor, deren Aussagekraft jedoch beschränkt ist", sagt Seefried. Darin fielen die Erfolge oft dürftig aus. Was vor allem daran liege, dass meist besonders motivierte, fitte und gesundheitsbewusste Patienten an den Studien teilnehmen, sagt der Orthopäde: "Die profitieren am wenigsten von einer Prähabilitation, weil sie ohnehin schon sportlich aktiv sind."

Was Seefried bei älteren Menschen mit Arthrose einführen möchte, findet zumindest vereinzelt schon in der Sportmedizin statt, zum Beispiel im Zentrum für Orthopädie und Sportmedizin in München. Besonders bei Leistungssportlern lässt der Unfallchirurg und Orthopäde Christian Wimmer bereits vor einer Operation die Muskeln trainieren und sorgt dafür, dass die Gelenke beweglich sind, etwa bei Verletzungen im Knie. Im vergangenen Jahr zum Beispiel kam ein Nachwuchsfußballer, 20 Jahre alt, zu ihm in Behandlung, er hatte sich ein Kreuzband und das Außenband im Knie gerissen. "Der junge Mann stand voll im Saft, hatte sich beim Training verletzt und drängte auf eine Operation, um möglichst schnell wieder spielen zu können," berichtet Wimmer, der den Verein TSV 1860 München samt Nachwuchs medizinisch betreut.

Mehr als nur Training von Kraft, Ausdauer und Koordination

Stattdessen wartete Wimmer ab, bis das Gelenk abgeschwollen war, um dann mit der Prähabilitation zu beginnen. "Die Sportler sind topfit, verletzen sich und hören plötzlich mit dem Training auf. Da müssen wir vor einer Operation schon verhindern, dass die Muskulatur abbaut", sagt der Mediziner vom Zentrum für Orthopädie und Sportmedizin in München. Sonst können sie nach dem Eingriff ihr altes Fitnessniveau nur schwer wieder erreichen. Das allerdings sei den Sportlern selbst oft nicht leicht zu vermitteln. "Gerade von Leistungssportlern wird erwartet, dass sie sofort operiert und wieder einsatzbereit sind", sagt Wimmer. Vergessen werde, dass es Zeit braucht, das verletzte Gelenk auf den Eingriff vorzubereiten.

Doch verstehen viele Ärzte unter einer Prähabilitation mehr als nur ein Training von Kraft, Ausdauer und Koordination. "Der ganze Mensch sollte in eine Prähabilitation eingebunden sein", sagt Carsten Perka, Ärztlicher Direktor des Centrums für Muskuloskeletale Chirurgie an der Charité in Berlin und stellvertretender Präsident der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie. Besonders gilt das für krebskranke Menschen.

Auch wenn Mediziner heute viele Tumore besser bekämpfen können als früher, leiden Patienten oft lange nach ihrer Therapie an deren Folgen. Mal ist ihre Muskelkraft vermindert, manche von ihnen leiden auch an einer bleiernen Müdigkeit, der Fatigue. Wieder andere werden depressiv. "Das Vertrauen in den eigenen Körper sinkt. Vor allem nach der Diagnose ziehen sich viele Patienten zurück und meiden jegliche körperliche Belastung", sagt Freerk Baumann, Leiter der Arbeitsgruppe Onkologische Bewegungsmedizin der Klinik für Innere Medizin der Universität Köln. Dabei haben große Studien längst nachgewiesen, dass Bewegung die Genesung von Krebspatienten fördert.

"Ideales Zeitfenster, um mit einer Prähabilitation zu beginnen"

Daher setzen Baumann und Kollegen Bewegung inzwischen auch als einen Baustein der Prähabilitation von Krebspatienten ein. Bei manchen Tumorerkrankungen müssen sich die Betroffenen erst einer Chemotherapie, mal auch zusätzlich einer Bestrahlung unterziehen, um den Tumor auf eine Größe zu schrumpfen, die gut zu entfernen ist. "Diese Phase ist ein ideales Zeitfenster, um mit einer Prähabilitation zu beginnen", sagt Baumann.

Julia Huchler zum Beispiel begann mit ihrem Training an der Universitätsklinik Köln, kurz nachdem ihre Chemotherapie begonnen hatte. Die heute 35-Jährige war an Brustkrebs erkrankt, der Sport half ihr, mit der neuen Lebenssituation umzugehen. "Ich fiel in ein Loch, mir ging es sehr schlecht", sagt Huchler. In einem geschützten Raum regelmäßig aktiv zu sein, habe ihr sehr gut getan. "Hier warf ich meine Perücke auch mal in die Ecke und trainierte mit Glatze, da schaute mich niemand komisch an", erinnert sie sich. Fünf Monate Chemo, dann erfolgte die Operation, danach wurde die Brust noch 35 Mal bestrahlt. Das Training begleitete sie durch die Monate der Behandlung, bis heute.

Für manche Krebserkrankungen konnten Mediziner bereits in Studien den Nutzen einer Prähabilitation belegen. Wenn Männern mit Prostatakrebs das Organ entfernt werden muss, hilft ein Schließmuskeltraining, um das Risiko einer Harninkontinenz zu mindern. Eine australische Studie mit 284 Teilnehmern zeigte, dass Patienten mit einem präoperativen Beckenbodentraining schneller eine Kontinenz erreichten als solche, die lediglich nach der Operation die Übungen absolvierten. "Schon ein paar Übungen vor einem Eingriff verbessern das muskuläre Zusammenspiel und helfen den Betroffenen, das Training auch nach der Operation umzusetzen", sagt Baumann.

Auch Patienten mit Lungenkrebs können profitieren, allerdings bleibt ihnen meist nur wenig Zeit vor einer Operation. "Hier zu warten, wäre ethisch nicht zu verantworten", sagt Baumann. Doch wissen Mediziner inzwischen, dass Patienten schon innerhalb weniger Tage deutlich an Muskelkraft und Ausdauer gewinnen können. Ähnlich wie man in einem Wanderurlaub am fünften Tag deutlich leichtfüßiger einen Gipfel erklimmt als am ersten, bessert sich die Fitness der Patienten auch in kurzer Zeit enorm.

Zusätzlich zum körperlichen Training bietet der niederländische Chirurg Slooter seinen Patienten besonders eiweißreiche Ernährung an, damit sich ihre Muskeln schnell aufbauen, auch Vitamine helfen den Erkrankten. "Wir achten zudem darauf, wie es ihnen psychisch geht, bieten Gespräche und Entspannungsmethoden an", sagt der Mediziner. Vor allem aber informiert er seine Patienten über jedes Detail ihrer Erkrankung und ihrer Therapie, um sie möglichst aktiv einzubinden.

In einer Pilotstudie an 50 Darmkrebspatienten fand Slooter bereits heraus, dass sich 86 Prozent jener Probanden mit Prähabilitation vier Wochen nach der Operation vollständig von dem Eingriff erholt hatten, in der Vergleichsgruppe dagegen nur 40 Prozent. In einer internationalen Studie an insgesamt 700 Patienten möchte Slooter mit Kollegen die Ergebnisse dieser kleinen Studie auf noch festeren Grund stellen.

Noch übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen in den Niederlanden nicht automatisch die Kosten einer Prähabilitation. Doch zahlen sie auf Antrag immerhin 800 Euro pro Patient. Davon können deutsche Ärzte bislang nur träumen. "Für eine Prähabilitation gibt es in Deutschland kein Budget", sagt Baumann.

Daher suchen Forscher nach anderen Möglichkeiten, möglichst vielen Patienten eine Prähabilitation anzubieten. Auch deshalb läuft an den Universitätskliniken Leipzig und Mainz eine Studie, in der Patienten mit einer Krebserkrankung der Speiseröhre sogar zu Hause mit einem Online-Trainingsprogramm ihre Leistungsfähigkeit vor ihrer Operation steigern sollen. "Woche für Woche passen wir den Trainingsplan individuell den Fortschritten des Patienten an", sagt Daniel Pfirrmann, Sportwissenschaftler in der Abteilung für Sportmedizin, Rehabilitation und Krankheitsprävention der Universität Mainz.

Auch die Würzburger Patientin Maria Naumann wird nach den Funktionstests nun ihren eigenen Trainingsplan erhalten. In ein paar Wochen schon wird sie vermutlich sehr viel sicherer über den lilafarbenen Teppich laufen.

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