Eines der Kinder ist vier Jahre alt, das andere zehn Monate. Beide leben im Südwesten der Ukraine. Ende Juni, Anfang Juli konnten die Kleinkinder ihre Gliedmaßen nicht mehr richtig bewegen. Die Lähmungen wurden schlimmer. Jetzt, zwei Monate später, gab die Weltgesundheitsorganisation WHO bekannt, dass die Kinder von einer Krankheit betroffen sind, die in Deutschland längst als ausgerottet gilt: Polio, besser bekannt als Kinderlähmung. "Das ist ein Rückschlag", sagte Oliver Rosenbauer vom Polio-Bekämpfungszentrum der WHO der dpa. Allerdings stünden die Chancen gut, den Ausbruch einzudämmen. "Das Virus ist nicht so aggressiv. Jetzt kommt es auf eine schnelle, umfassende Impfaktion an."
"In den meisten Regionen der Welt ist Polio zwar nur eine sehr entfernte Erinnerung, aber die Krankheit gibt es immer noch und sie betrifft vor allem Kinder unter fünf Jahren", so die WHO. Polio hat damit wieder Europa erreicht. Die Region, in der sich der Ausbruch ereignete - das früher als Transkarpatien bezeichnete Verwaltungsgebiet Zakarpatskaya - grenzt an Polen, Ungarn, die Slowakei und Rumänien. Luftlinie sind es bis Passau oder Dresden nur etwa 700 Kilometer.
Aus Sicht des Robert-Koch-Instituts (RKI) muss zwar "das Risiko einer Einschleppung von Polioviren nach Deutschland durch Einreisende aus der Ukraine ernst genommen werden". Schließlich haben die meisten Menschen, die infiziert sind, keine Symptome und das Virus kann mehrere Wochen lang unbemerkt mit dem Stuhl ausgeschieden werden. "Aufgrund der ausreichend hohen Polio-Impfquoten wird die Gefahr einer Ausbreitung in Deutschland jedoch als gering eingeschätzt", so das RKI.
Wenn auch nur ein Kind infiziert ist, kann dies zum Ausgangspunkt für eine Epidemie werden
Für die Ukraine sieht die Einschätzung anders aus. Die Impfquoten sind dort seit 2009 stark gesunken. Laut Angaben der WHO waren 2014 nur die Hälfte aller Kinder gegen Kinderlähmung geimpft. "Nicht wenige haben Zweifel an der Sicherheit von Impfstoffen", so Rosenbauer. Wegen der erheblichen Impflücken und der unzureichenden Überwachung des Krankheitsverlaufs in einigen Regionen schätzt die WHO das Risiko einer weiteren Ausbreitung als hoch ein. Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation sind bereits vor Ort, um die Ukraine in der Seuchenprävention zu unterstützen.
Die Kinderlähmung wird durch Viren übertragen, von denen es drei Stämme gibt. Wildtyp 2 des Poliovirus wurde 1999 ausgerottet, Wildtyp 3 findet sich nur noch sehr selten. Allerdings führt längst nicht jede Ansteckung zum Vollbild der Erkrankung. Eine von 200 Infektionen löst jedoch eine irreversible Lähmung aus, von der meist die Beine betroffen sind. Fünf bis zehn Prozent der Gelähmten sterben, weil ihre Atemhilfsmuskulatur betroffen ist.
In den vergangenen 30 Jahren haben die Anstrengungen, Polio auszurotten, zu beeindruckenden Erfolgen geführt. 1988 wurde das Programm gestartet; damals wurden noch 350 000 Fälle rund um den Globus dokumentiert, 2013 waren es noch 416; ein Rückgang um mehr als 99 Prozent. 2010 hat es einen Polio-Ausbruch in Tadschikistan gegeben. In dem Land und in Nachbarstaaten starben 29 Menschen. Insgesamt ist die WHO aber zuversichtlich, die Krankheit besiegen zu können. Weltweit seien in diesem Jahr bisher nur 38 Fälle - vor allem in Pakistan und Afghanistan - gezählt worden, sagte Rosenbauer. "Wir sind näher dran als je zuvor."
Nach Hochrechnungen der WHO können heute zehn Millionen Menschen gehen, die ohne die Impfung gelähmt gewesen wären. Mehr als 1,5 Millionen Todesfälle wurden verhindert. Allerdings warnt die WHO davor, die bisherigen Erfolge bereits als Sieg über die Kinderlähmung zu werten. "Wenn auch nur ein Kind infiziert bleibt, kann es für Kinder in jedem Land der Welt zum Risiko werden, sich mit Polio anzustecken", so die Gesundheitswächter. "So lange es nicht gelingt, die wenigen verbleibenden Infektionsherde auszulöschen, könnten daraus jedes Jahr 200 000 neue Fälle entstehen."
Die Erkrankungen in der Ukraine werden auf eine sogenannte vakzineassoziierte Poliomyelitis (VAPP) zurückgeführt. Zu dieser kann es kommen, wenn abgeschwächter Lebendimpfstoff, die frühere "Schluckimpfung", verwendet wird. In ein bis zwei Fällen pro einer Million Erstimpfungen mutieren die Virusstämme und führend in unzureichend geimpften Bevölkerungsgruppen zu Ausbrüchen.
"Gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite"
Erkrankungen durch Wildstämme sind in Deutschland zuletzt 1990 aufgetreten. Die letzten beiden importierten Fälle - aus Ägypten und Indien - wurden 1992 registriert. Danach traten allerdings auch hierzulande jedes Jahr bis zu drei Fälle vakzineassoziierter Poliomyelitis (VAPP) auf. Daher hat die Ständige Impfkommission 1998 empfohlen, in Deutschland nur noch inaktivierte Polio-Impfstoffe zu verwenden, bei denen kein Risiko mehr für eine vakzine-assoziierte Erkrankung besteht.
Wer im Säuglings- und Kleinkindalter eine Grundimmunisierung und im Jugendalter oder später mindestens eine Auffrischimpfung erhalten hat, gilt als vollständig immunisiert. Da Polio in Deutschland jedoch jederzeit eingeschleppt werden kann, wird die Impfung so lange empfohlen, bis die Kinderlähmung weltweit ausgerottet ist und weder das Poliowildvirus noch das Impfvirus mehr zirkulieren.
Vergangenes Jahr, im Mai 2014, hatte die WHO eine "Gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite" ausgerufen. Um den Export von Polio-Wildviren aus Pakistan, Afghanistan, Nigeria, Kamerun, Syrien, Israel, Irak, Äquatorial Guinea, Äthiopien und Somalia zu verhindern, gab es die dringende Empfehlung, dass Personen vor der Ausreise geimpft werden sollten. "Alle Experten waren sich einig, dass der Notruf gerechtfertigt ist", sagte Marsha Vanderford von der amerikanischen Seuchenschutzbehörde CDC seinerzeit. In Krisengebieten wie Syrien, Afghanistan und Nigeria hatte sich das Virus stark vermehrt und wurde in andere Länder übertragen. Womöglich muss man die Ukraine bald zur Liste dieser gesundheitlich instabilen Länder hinzuzählen.