Süddeutsche Zeitung

Medizingeschichte:Viren gegen Wikinger

Die Pocken kamen in Europa schon viel früher vor als bisher angenommen. Ein bislang unbekannter Virenstamm plagte bereits die nordischen Seefahrer.

Von Astrid Viciano

Mal waren es angeblich die Kreuzfahrer, die den Erreger nach Europa mitbrachten. Oder die Araber, als sie im 8. Jahrhundert nach Christus in Spanien einfielen. Oder doch erst die Normannen, die im 13. Jahrhundert England erreichten. Zuletzt hatten kanadische Forscher Genbruchstücke der gefürchteten Pockenviren aus einer Kindermumie aus Litauen isoliert und den letzten gemeinsamen Vorfahren der modernen Pockenviren auf das 17. Jahrhundert datiert. Nun zeigt ein internationales Forscherteam, dass die Erreger schon viel früher zirkulierten: "Die Pockenviren breiteten sich schon im 7. Jahrhundert in Nordeuropa aus", sagt Barbara Mühlemann, Bioinformatikerin und eine der beiden Erstautoren der aktuellen Studie im Fachblatt Science. Und zwar unter den Wikingern.

Auf die Spuren der alten Pockenviren kamen Mühlemann und Kollegen, als sie die Überreste von 1867 Menschen aus Eurasien und Amerika sequenzierten, zwischen 31 630 und 150 Jahre alt. Unter ihnen machten die Forscher 13 Individuen aus, die allesamt aus Nordeuropa stammten, elf von ihnen ungefähr aus der Wikingerzeit, zwischen 600 und 1050 nach Christus. Für vier der alten Proben konnten sie das Erbgut der Viren fast vollständig rekonstruieren - und mit den modernen Pockenstämmen vergleichen.

Zu ihrer Überraschung stellten Mühlemann und Kollegen fest, dass sie es mit einem bislang unbekannten, inzwischen ausgestorbenen Stamm der Pockenviren zu tun hatten. "Wir gehen davon aus, dass der Stamm damals in ganz Nordeuropa verbreitet war", sagt Mühlemann. Erstaunlicherweise hatten die alten Pockenviren ein ganz anderes Muster an aktiven und inaktiven Genen als die modernen Verwandten. "Das Aktivitätsmuster der Gene im Pockenvirus der Wikingerzeit könnte bedeuten, dass das Virus damals nicht nur den Menschen, sondern auch Tiere befallen konnte", sagt Mühlemann.

Im 20. Jahrhundert starben 500 Millionen Menschen an den Pocken

Wie hoch die Sterblichkeit war oder welche Symptome das alte Virus hervorrief, können die Forscher daraus allerdings nicht ablesen. Immerhin aber lassen die genetischen Daten vermuten, dass die Viren auch bei den Wikingern Fieber auslösten. "Wir bekommen so vor allem einen wichtigen Einblick, wie sich Pockenviren entwickeln können", sagt die Bioinformatikerin, die bis vor Kurzem am Center for Pathogen Evolution der Universität Cambridge an der Studie arbeitete und jetzt am Institut für Virologie der Charité tätig ist.

Noch wissen Forscher erstaunlich wenig über die Geschichte der Pockenviren, die allein im 20. Jahrhundert bis zu 500 Millionen Menschen das Leben kosteten. Die Betroffenen litten unter hohem Fieber und entwickelten einen Ausschlag, vor allem im Gesicht, an Armen und Beinen. Die Pusteln füllten sich mit Flüssigkeit, bildeten Krusten, die irgendwann abfielen, aber hässliche Narben zurückließen. Etwa 30 Prozent der Erkrankten starben. Im Jahr 1796 schon hatte der englische Arzt Edward Jenner die erste Impfung der Medizingeschichte mit Kuhpocken an einem Jungen vorgenommen, seit 1980 gelten die Pocken als ausgerottet, als weltweit erste Infektionserkrankung überhaupt.

"Wir wissen aber bis heute nicht, wie und wo die Pockenviren entstanden sind", sagt der Bioinformatiker Terry Jones, ebenfalls Co-Autor der Studie. So wissen die Forscher nicht einmal, in welchen Tieren die Infektionserreger in der Natur vor allem vorkommen. "Wir gehen davon aus, dass es sich um einen Nager handelt", sagt Jones, der als Arbeitsgruppenleiter an der Charité ebenso wie am Center for Pathogen Evolution der Universität Cambridge tätig ist.

Auch wenn die für Menschen hochgefährlichen Pockenviren ausgerottet sind, gibt es noch andere Stämme, die Menschen oder Tiere befallen. Die Kuhpocken etwa und die Kamelpocken, solche aus Rennmäusen und Affenpocken. So gibt es in West- und Zentralafrika regelmäßig Fälle von Affenpocken, die auf den Menschen überspringen, in Zentralafrika sterben immerhin zehn Prozent der Erkrankten daran. "Unsere Studie macht deutlich, wie viel wir noch über die Geschichte der Pockenviren lernen können", sagt Jones. Um die Entwicklung der Virenstämme besser zu verstehen - und frühzeitig zu erkennen, wenn neue, für Menschen hochgefährliche Infektionserreger entstehen.

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