Die Seuche befiel alle, auch die zuvor vollkommen Gesunden. Die Betroffenen bekamen Fieber und stanken aus dem Mund, ihre Augen entzündeten sich, es folgten Husten und Erbrechen, viele litten unter Krämpfen. So berichtet es der Athener Schreiber Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Auf der Haut der Kranken zeigten sich Pusteln und Geschwüre, die Narben hinterließen. Die Straßen Athens füllten sich mit Toten. Ärzte wussten keinen Rat, sie starben selbst in Scharen. Tiere, die an den Leichen geknabbert hatten, verendeten ebenfalls. Doch immerhin, es gab einen Lichtblick, so Thukydides: Wer die Seuche einmal überstanden hatte so wie er selbst, der erkrankte kein zweites Mal. Oder zumindest nicht mehr so schwer.
Was die Athener in jenem Frühsommer des Jahres 430 vor Christus heimgesucht hat, ist als "Attische Seuche" in die Geschichte eingegangen. Zeitgenossen glaubten laut Thukydides zunächst, die verfeindeten Spartaner hätten das Wasser vergiftet. Danach war von einer aus Afrika eingeschleppten Seuche die Rede. Spätere Historiker haben über Dutzende Krankheiten spekuliert. Als sicher gilt nur: Die von Rattenflöhen übertragene Beulenpest war es nicht, denn Ratten kamen erst in der Römerzeit nach Europa. Doch was sich tatsächlich hinter der Attischen Seuche verbirgt, lässt sich heute kaum noch klären.
Medizingeschichte:Viren gegen Wikinger
Die Pocken kamen in Europa schon viel früher vor als bisher angenommen. Ein bislang unbekannter Virenstamm plagte bereits die nordischen Seefahrer.
Dasselbe gilt für andere Seuchen der Antike, die bis heute rätselhaft sind, zum Beispiel für die sogenannte Antoninische Pest, die um 170 nach Christus jahrelang im Römischen Reich wütete. Oder für jene Krankheit, die das Gesicht des ägyptischen Pharaos Ramses V. entstellte, der im 12. Jahrhundert vor Christus vier Jahre lang das späte ägyptische Neue Reich regierte, bis er aus unbekanntem Grund starb.
Im 20. Jahrhundert töten die Pocken Hunderte Millionen Menschen
Italienische Mikrobiologen aber bringen jetzt eine Krankheit neu ins Spiel, die eigentlich schon aus dem Kreis der Verdächtigen ausgeschieden war: die Pocken. Tatsächlich klingen Thukydides' Beschreibungen verdächtig nach dieser Infektionskrankheit. Auch antike Schilderungen der Antoninischen Pest erinnern an jene Viren der Gattung Orthopoxvirus variolae, die im 20. Jahrhundert Hunderte Millionen Menschen umgebracht haben, bevor sie 1980 bis auf Restbestände in Labors ausgerottet werden konnten.
Ursprüngliche Analysen der Mutationen im Erbgut von Pockenviren legten nahe, dass die tödlichen Erreger frühestens im 18. Jahrhundert entstanden sein können - und dass sie zwar auf einen älteren Vorgänger zurückgehen, der aber auch erst im 16. Jahrhundert nach Christus entstanden sein könne, also zwei Jahrtausende nach der Attischen Seuche und mehr als ein Jahrtausend nach der Antoninischen Pest. Pockenviren konnten es demnach nicht gewesen sein.
Doch dieses Urteil war womöglich etwas vorschnell. Zuletzt haben Forscher bereits nachgewiesen, dass in Skandinavien im Frühen Mittelalter ein bislang unbekannter, später ausgestorbener Zweig von Variolaviren verbreitet war. Und nun haben Mikrobiologen um Diego Forni vom Forschungsinstitut IRCCS Eugenio Medea nördlich von Mailand den Ursprung der Erreger noch deutlich weiter zurückdatiert. Wie sie in der Zeitschrift Microbial Genomics berichten, geht der Ursprung der Pockenviren wohl auf einen letzten Vorgänger vor etwa 4000 Jahren zurück. Die Viren wären demnach so alt, dass sie ohne Weiteres sowohl für die Attische Seuche als auch für die Antoninische Pest verantwortlich gewesen sein könnten - und auch Ramses V. könnte ein Opfer der Pocken gewesen sein.
Gene verändern sich kurzfristig betrachtet erheblich schneller als langfristig
Die Forscher um Forni stützen sich nicht auf womöglich neu entdeckte Pockenviren aus dem Altertum. Vielmehr haben sie bereits bekannte Daten zu Viren neu analysiert und dabei neu berücksichtigt, was Wissenschaftler das "Time-dependent rate phenomenon" nennen. Wie schnell sich ein Organismus evolutionär zu verändern scheint, hängt demnach davon ab, welche Zeitskala angelegt wird. Vereinfacht gesagt, verändern sich Genome kurzfristig betrachtet erheblich schneller als langfristig; das Phänomen stellt bisherige Berechnungen zur Geschwindigkeit der Evolution infrage. Dem Team zufolge gilt das auch für die Pockenviren.
"Das Variolavirus könnte viel, viel älter sein als wir dachten", sagte Forni der britischen Microbiology Society. Das bestätige historische Berichte über Pockenausbrüche in antiken Gesellschaften und trage hoffentlich auch dazu bei, die Kontroverse um das evolutionäre Alter der Pocken zu beruhigen.
Ob es tatsächlich die Pocken waren, die zum Beispiel zur Zeit des Peloponnesischen Krieges in Athen grassierten, ist damit zwar nicht ausgemacht - um das zu entscheiden, müsste man wohl in gut erhaltenen Leichnamen aus der damaligen Zeit eindeutige Spuren der Viren finden. Bis dahin gilt: Was es mit historischen Plagen wie der Attischen Seuche auf sich hatte, ist so unklar wie zuvor.