In Europa blieb die Arzneimittelaufsicht hart, doch ihr Pendant in den USA gab nach: Im September 2022 ließ die FDA das Medikament Relyvrio zu, der Druck von Betroffenen war zu groß. Immer wieder hatten Patientenvertreter die Zulassung des Mittels gegen die tödliche Krankheit ALS gefordert. Doch vor einem halben Jahr zeigte sich, dass die EU-Behörde richtig lag: Das Mittel half gar nicht gegen ALS. All die Hoffnungen, die hohen Therapiekosten – sie waren vergebens.
Patientinnen und Patienten sind oft mächtige Fürsprecher von Pharmaunternehmen, wenn es um neue Medikamente geht. Selbstverständlich haben sie ein Interesse daran, möglichst schnell Zugang zu innovativen Arzneimitteln zu bekommen. Allerdings werden sie von den Firmen auch gezielt für deren Zwecke eingesetzt. Denn die Arbeit von Patientenorganisationen hängt häufig von den Mitteln der Pharmaindustrie ab. Das Problem ist schon länger bekannt. Doch wie groß und undurchsichtig die finanzielle Einflussnahme der Industrie weiterhin ist, zeigen nun Recherchen eines Journalistenteams von Investigate Europe.
So haben die großen Pharmakonzerne allein im Jahr 2022 rund 110 Millionen Euro an Patientenorganisationen in der EU, Norwegen, der Schweiz und Großbritannien gezahlt. Dies geht aus den Angaben von Efpia hervor, dem europäischen Dachverband der Pharmaindustrie. Die Gesamtsumme ist wahrscheinlich höher, weil die Summen in einigen Ländern nur lückenhaft erfasst werden. Und nicht immer ist klar, wofür das Geld konkret gedacht war.
„Pharmaunternehmen nutzen diese Finanzierung, um ihre Ziele zu erreichen.“
Efpia erklärt zwar auf Anfrage, der Verband sei „führend bei der Schaffung von mehr Transparenz“, räumt aber zugleich ein, dass die Offenlegung „fragmentiert“ sei. Was aus den Zahlen hervorgeht: Die großen Firmen teilen sich beim Patienten-Sponsoring die vorderen Plätze. So war das US-Unternehmen Gilead im Jahr 2022 mit 12,8 Millionen Euro der größte Geber, gefolgt von Novartis, Pfizer, Roche, Sanofi und Johnson & Johnson. Zusammen haben diese sechs Konzerne mehr als die Hälfte der Gesamtmittel für Patientenorganisationen zur Verfügung gestellt.
Diese Gruppen sind ohne Zweifel eine wichtige Stütze für Kranke. Sie können aber auch für Arzneimittelhersteller, die ihre Medikamente gegen die entsprechenden Krankheiten vermarkten wollen, eine Hilfe sein. Denn die Patientinnen und Patienten können nicht nur Druck auf Zulassungsbehörden ausüben, sondern auch auf Ärzte, und zudem die öffentliche Aufmerksamkeit auf ein Medikament lenken.
Oft gehe es den Firmen mit ihrem Sponsoring darum, „Patientengruppen zu sozialisieren, damit sie über politische Themen auf eine Art und Weise denken, die mit den Vorstellungen der Arzneimittelhersteller übereinstimmt“, sagt der Soziologe Piotr Ozieranski von der Universität Bath. Er erforscht die Finanzierung von Patientenorganisationen. Die britische Allgemeinmedizinerin Margaret McCartney, die sich seit Jahren mit Interessenkonflikten beschäftigt, drückt es noch deutlicher aus: „Pharmaunternehmen nutzen diese Finanzierung, um ihre Ziele zu erreichen. Es besteht ein massives Risiko für die Unabhängigkeit dieser Patientengruppen.“
Die Zahlungen der 33 Efpia-Mitgliedsfirmen gingen an mehr als 3000 Gruppen in ganz Europa – und es waren keine Peanuts: 487 Gruppen erhielten jeweils mindestens 50 000 und 24 Gruppen mehr als eine halbe Million Euro. Was Ozieranski und McCartney nicht überrascht: Ein großer Teil der Mittel floss an Patientengruppen, für deren Krankheiten die Unternehmen gerade neue oder teure Behandlungen anbieten. Dagegen standen nur rund zwei Prozent des Geldes im Zusammenhang mit den weniger lukrativen Suchtkrankheiten und psychischen Leiden.
So erhielt die International Federation of Psoriasis Associations (IFPA), ein Netzwerk zur Unterstützung von Menschen mit Schuppenflechte, mehr als eine Million Euro. Eine Analyse ihrer Konten zeigt, dass der in Stockholm ansässige Verband fast vollständig von Pharmaunternehmen finanziert wird. Dennoch erwähnt dieser die Beteiligung von Pfizer, Amgen und anderen Konzernen auf seiner Website nur am Rande, meist in Form von „Partner“-Logos. Auch viele andere Gruppen nennen nicht den vollen Umfang der Mittel, die sie von Unternehmen erhalten.
Die geschäftsführende Direktorin der IFPA, Frida Dunger, erklärte dazu, ihre Organisation lasse sich „ausschließlich von unserer Mission leiten, das Leben von Menschen mit Psoriasis zu verbessern“. Allerdings versuche man, die Finanzierung zu diversifizieren, auch sei Transparenz von zentraler Bedeutung. Die Website werde derzeit gründlich überarbeitet.
Auch Patientengruppen, die sich mit Hämophilie und anderen seltenen Blutkrankheiten beschäftigen, erhielten mehr als 3,3 Millionen Euro. Das mag zunächst überraschen. Denn nach Angaben des European Haemophilia Consortium (EHC), das mehr als 600 000 Euro von CSL Behring, Sanofi, Roche und anderen bekam, sind weniger als 0,03 Prozent der EU-Bevölkerung von diesen Krankheiten betroffen. Dafür sind die Medikamente in diesem Bereich umso teurer. So kostet die Gentherapie „Hemgenix“ gegen Hämophilie B von CSL Behring mehr als eine Million Euro. Sie wurde vergangenes Jahr in Europa zugelassen.
„Unternehmen sponsern die Aufmerksamkeit für chronische Krankheiten, für die es kostspielige Therapien gib“, sagt Claudia Wild, Geschäftsführerin des österreichischen Instituts für Health Technology Assessment, das im staatlichen Auftrag unabhängig von der Industrie die Wirkung von Medikamenten prüft. „Wenn die Firmen tatsächlich aus altruistischem Motiv spenden würden, könnten sie in einen zentralen Topf einzahlen und wüssten dann nicht, welche Patientengruppe das Geld bekommt. Das tun sie aber nicht. Es geht nur um Einfluss.“
Das EHC erklärt, es sei „in erster Linie“ auf Gelder aus der Industrie angewiesen, auch weil öffentliche Mittel zumeist an Patientengruppen mit häufigeren Erkrankungen flössen. Geschäftsführerin Olivia Romero Lux sagt, ihre Organisation strebe eine breite Palette von Finanzierungsquellen an. Ohne die Beiträge der Industrie sei die EHC aber nicht in der Lage, „für unsere Mitglieder den Zugang zu Diagnose, Pflege und Behandlung zu verbessern“.
Gleichzeitig fließen fast alle Industriespenden für Patienten nur in die Länder mit dem größten Einfluss – und den größten Märkten. So nahmen Patientenvertreter in Großbritannien mit 20,7 Millionen Euro am meisten Geld von der Industrie. Gleich auf Platz zwei aber steht mit 13 Millionen Euro das kleine Belgien, wo EU-Kommission und EU-Parlament ansässig sind. Dann folgen Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland mit acht Millionen Euro. Nach Malta gingen weniger als 10 000 Euro.
Mitunter ist der politische Einfluss der Patientenorganisationen auch aufgrund von Verflechtungen mit Entscheidern groß. Auffällig ist, dass im Jahr 2022 rund 10 Millionen Euro von Pharmaunternehmen an Patientenorganisationen mit Sitz in Brüssel gingen. Die European Federation of Allergy and Airways Diseases Patients’ Associations (EFA) etwa nahm fast 640 000 Euro ein. Sie ist Teil einer Arbeitsgruppe bei der EU-Zulassungsbehörde sowie einer Interessengruppe im Europäischen Parlament. Im Jahr 2022 stammten etwa zwei Drittel ihrer Einnahmen von der Industrie, wie die EFA-Website zeigt. Die Gruppe sei auf die Unterstützung mehrerer Unternehmen angewiesen, sagte Geschäftsführerin Susanna Palkonen.
„Patientengruppen sind bessere Marketingakteure als Pharmaunternehmen.“
Ein weiterer Empfänger in Brüssel war die International Diabetes Federation (IDF), die 1,6 Millionen Euro erhielt. „Wir glauben, dass Pharmaunternehmen wertvolle Partner für die Diabeteskranken sein können. Darum gehen wir Partnerschaften mit verantwortlich handelnden Unternehmen ein, um unsere Mission zu fördern“, sagt eine IDF-Sprecherin. Dass Pharmaunternehmen nicht immer im Interesse von Patienten handeln, erfährt man auf der Website der IDF allerdings nicht.
Im Dezember 2023 wurde das französische Pharmaunternehmen Servier zur Zahlung von 415 Millionen Euro Schadenersatz verurteilt, weil sein Diabetesmedikament Mediator mit Hunderten Todesfällen in Verbindung gebracht wurde. Einen Hinweis zu dem weltweit beachteten Fall konnte Investigate Europe auf der Website der IDF jedoch nicht finden. Die Sprecherin sagt dazu: „Es ist unsere generelle Politik, Nachrichten, ob positiv oder negativ, im Zusammenhang mit bestimmten Medikamentenmarken nicht zu kommentieren oder zu verstärken.“
Millionen fließen auch in das Sponsoring von Konferenzen, die Patientengruppen organisieren. „Es gibt eine direkte, lineare Beziehung“, sagt Gesundheitsforscherin Claudia Wild. „Patientengruppen sind bessere Marketingakteure als Pharmaunternehmen, weil sie als neutral oder objektiv angesehen werden.“
Das Schweizer Unternehmen Novartis zum Beispiel hat 2022 „Heart UK“ mehr als 180 000 Euro gespendet, 2021 waren es auch schon 25 000 Euro. Zufall oder nicht: Im Oktober 2021 setzte sich die Wohltätigkeitsorganisation bei den britischen Behörden für die Zulassung des Cholesterinsenkers Inclisiran ein. Und das, obwohl etwa zur gleichen Zeit die British Medical Association Bedenken wegen der Sicherheit des Medikaments anmeldete. Die von Novartis im Jahr 2023 veröffentlichten Daten besagen dagegen, dass sich das Medikament als sicher und durchgängig wirksam erwiesen hat. Heart UK reagierte nicht auf Bitten um Stellungnahme. Auf Anfrage teilt eine Sprecherin von Novartis mit: „Wir glauben, dass die Patienten im Mittelpunkt der Entscheidungsfindung stehen sollten.“
Diesem Glauben kann indes unterschiedlichste Motivation zugrunde liegen. Investigate Europe hat alle 33 Mitglieder von Efpia um eine Stellungnahme zur Instrumentalisierung der Patienten für Marketingzwecke gebeten. Alle verneinten die Beeinflussung der Gruppen, viele davon mit einer identischen Antwort. Demnach seien es Patientenorganisationen „gewohnt, mit einer Vielzahl von Akteuren umzugehen und dabei ihre Unabhängigkeit zu wahren.“ Diese Unabhängigkeit werde „sehr geschätzt“.
Investigate Europe ist eine gemeinnützige Genossenschaft von Journalisten aus elf Ländern, die von Stiftungen, privaten Spendern und Lesern finanziell unterstützt wird.