Süddeutsche Zeitung

Pflege von Demenzkranken:"Allein ist das kaum zu schaffen"

Lesezeit: 5 min

Stundenlanges Umherlaufen - auch in der Nacht, Misstrauen, zunehmende Hilflosigkeit: Die Diagnose Alzheimer stellt Angehörige auf eine harte Belastungsprobe. Das Pflegesystem ist nicht ausreichend gerüstet; Familien müssen zur Selbsthilfe greifen. Ein Überblick über die Angebote.

Von Katrin Neubauer

"Ich weiß gar nicht, was los ist. In meinem Kopf ist alles leer." Immer wieder hört Susanne M. diese Sätze. Sonst sagt ihr Vater nicht mehr viel, wenn sie ihn im Pflegeheim besucht. Er leidet seit Jahren an Alzheimer-Demenz. Als vor zwei Jahren die Harninkontinenz hinzukam, konnte seine über 80 Jahre alte Ehefrau die Pflege daheim nicht mehr stemmen. Sie hatte ihn bis dahin fast 20 Jahre versorgt und war inzwischen selbst schwer an Demenz erkrankt.

30 bis 60 Prozent der Patienten mit Alzheimer oder einer anderen Form von Demenz werden laut Barmer GEK Pflegereport (2010) von Angehörigen zu Hause gepflegt. Die Belastung ist enorm. "Am schlimmsten empfinden Pflegende die ständige Gebundenheit", sagt Heike Nordmann, Geschäftsführerin vom Kuratorium Deutsche Altenhilfe. "Nichts geht spontan. Behördengänge, Arztbesuche, Frisörtermine - für alles muss eine Betreuung organisiert oder der Demenzkranke mitgenommen werden."

Zu Beginn der Erkrankung sind es vor allem die Folgen der Vergesslichkeit und Orientierungslosigkeit, die Angehörige belasten. Der Demenzkranke findet sich nicht mehr zurecht, schaltet den Herd nicht aus oder vergisst, welche Tageszeit ist - so wie Susannes Mutter, die mitten in der Nacht Verwandte anrief.

Zu den Symptomen gehören häufig auch Verhaltensveränderungen, wie Unruhe, Aggressivität, Angst, Apathie oder auch Halluzinationen. Manche Erkrankte werden von einem starken Aktivitätsdrang gepackt, und laufen stundenlang hin und her. Andere sind ständig am Suchen. Wieder andere werden misstrauisch und manchmal sogar handgreiflich. "Häufig entspringt solches Verhalten dem Gefühl, nicht verstanden zu werden oder zu etwas gezwungen worden zu sein, das man nicht versteht", sagt Nordmann.

Verändertes Verhalten ist schwer auszuhalten

Für pflegende Angehörige sind derartige Verhaltensweisen oft eine höhere Belastung als die eigentlichen kognitiven Einbußen", sagt Detlef Rüsing, Leiter des Dialog- und Transferzentrums Demenz (DZD) der Universität Witten/Herdecke. Die größte Herausforderung sei, diese auszuhalten und richtig zu deuten. Es gehe nicht darum, Verhaltensweisen zu therapieren, sondern sie zu akzeptieren und angemessen damit umzugehen. "Das Verhalten von Menschen mit Demenz zu verstehen, muss vor dem Handeln kommen. In der Realität ist es aber oft umgekehrt", so Rüsing.

Schreitet die Erkrankung fort, verlernen Betroffene auch Alltagsfähigkeiten, wie sich zu waschen, einen Löffel zum Mund zu führen, sich anzuziehen oder auf die Toilette zu gehen. "Mein Vater weiß inzwischen nichts mehr mit dem Essen auf dem Teller anzufangen", erzählt Susanne. "Man muss ihm sagen, was er mit dem Besteck machen muss, sonst würde er nichts essen."

Eine Alzheimererkrankung führt fast zwangsläufig zur Pflegebedürftigkeit. "Spätestens wenn die Grundpflege nicht mehr allein klappt, schalten viele Angehörige professionelle Hilfe ein", sagt Nordmann. Denn die Pflege von Alzheimerkranken kann sich über zehn, 20 Jahre hinziehen. Angehörige kommen dabei nicht selten an ihre psychischen und körperlichen Grenzen. Viele arbeiten noch und haben Familie oder sind selbst schon hochbetagt.

Umso wichtiger ist, die Pflege auf möglichst viele Schultern zu verteilen. Denn die Pflege wird mit fortschreitender Krankheit nicht einfacher. Rüsing: "Angehörige sollten jedes Hilfsangebot mitnehmen, das sie bekommen können. Allein ist das kaum zu schaffen."

Auch Susannes Familie teilte sich die Versorgung der kranken Eltern. Sie und ihr Bruder erledigten Behördengänge, Einkäufe, gingen mit zum Arzt. Später wurde ein Pflegedienst eingeschaltet und der Vater zweimal pro Woche in der Tagespflege betreut. Der Umzug ins Heim konnte so zwölf Jahre hinausgezögert werden.

Welche Hilfs- und Entlastungsangebote es gibt, lesen Sie auf der nächsten Seite.

Leistungen der Pflegekassen

Prinzipiell ist das deutsche Pflegesystem nicht gut auf die Bedürfnisse von Demenzkranken eingestellt. Bei der Begutachtung der Pflegebedürftigkeit wird der Fokus vor allem auf körperliche und weniger auf geistige Einbußen gelegt. Die Leistungen der Pflegekassen - also Pflegegeld oder die sogenannten Pflegesachleistungen (Mittel für einen ambulanten Pflegedienst) - werden dem Aufwand der pflegenden Angehörigen in vielen Fällen nicht gerecht. Allerdings gab es in den vergangenen Jahren einige Verbesserungen für Demenzkranke. Familien sollten daher auf jeden Fall versuchen, eine Pflegestufe und die damit verbundenen Leistungen zu erhalten. Ansprechpartner sind die Pflegekassen, die bei den Krankenkassen angesiedelt sind.

Weitere Informationen: Wie die Begutachtung der Pflegebedürftigkeit funktioniert, erfahren Sie hier. Wer einen Pflegedienst engagieren möchte, findet hier eine Checkliste, worauf zu achten ist.

Entlastung bei Krankheit, Urlaub oder Auszeiten der Pflegenden

Wer eine Pflegestufe hat (ab Pflegestufe 0) kann die so genannte Verhinderungspflege in Anspruch nehmen. Für maximal 28 Tage im Jahr werden bis zu 1550 Euro gezahlt, um den Kranken vorrübergehend von einem Pflegedienst oder einer Privatperson versorgen zu lassen. Was viele nicht wissen: Das Geld können Pflegende nicht nur bei tagelange Abwesenheit beanspruchen, sondern auch stundenweise in Anspruch nehmen, etwa um Behördengänge zu erledigen oder einfach eine Auszeit zu nehmen.

Muss der Kranke wegen längerer Abwesenheit vorrübergehend in einem Heim untergebracht werden, gewährt die Kasse für weitere vier Wochen einen Betrag von 1550 Euro. Anspruch auf diese so genannte Kurzzeitpflege besteht allerdings erst ab Pflegestufe 1. Ansprechpartner für Verhinderungs- und Kurzzeitpflege sind die Pflegekassen.

Betreuung durch ehrenamtliche Helfer

Egal ob mit oder ohne Pflegestufe: Familien mit Demenzkranken stehen die so genannten niedrigschwelligen Angebote offen. Sie bieten stundenweise Entlastung ohne bürokratische Hürden.

So bieten Alzheimer-Gesellschaften und Wohlfahrtsverbände Betreuungsgruppen in ihren Einrichtungen an. Für einige Stunden an ein bis zwei Tagen pro Woche werden Demenzkranke von geschulten ehrenamtlichen Mitarbeitern und einer Fachkraft betreut.

Ehrenamtliche Helfer übernehmen auch eine kostengünstige stundenweise Betreuung zu Hause. Sie begleiten Demenzkranke auf Spaziergängen oder zum Frisör, lesen vor oder spielen mit ihnen Gesellschaftsspiele. Die ehrenamtlichen Helfer werden regelmäßig geschult. Sie übernehmen allerdings keine pflegerischen und hauswirtschaftlichen Leistungen.

Die Kosten können teilweise durch Leistungen der Pflegekassen gedeckt werden. Diese erstatten für zusätzliche Betreuungsleistungen bei erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz nach SGB XI §45b 100 beziehungsweise 200 Euro im Monat - auch für Menschen ohne Pflegestufe.

Ansprechpartner für niedrigschwellige Angebote sind die Niederlassungen der Deutschen Alzheimergesellschaft, Wohlfahrtsverbände oder Beratungsstellen im Ort. Auch die Pflegestützpunkte, die in vielen größeren Orten eingerichtet wurden, informieren über alternative Betreuungsmöglichkeiten. Eine Auflistung dieser Beratungsstellen gibt es hier.

Tagespflege

Wer die Pflege zuhause nicht mehr schafft, aber seinen Angehörigen nicht komplett in ein Heim geben möchte, kann eine Tagespflegeeinrichtung in Betracht ziehen. Betroffene werden hier tagsüber betreut und kommen am Abend nach Hause. Oft holt und bringt ein Fahrdienst die Patienten. Die Tagessätze für den Aufenthalt liegen laut Deutscher Alzheimer Gesellschaft zwischen 45 und 90 Euro. Ein Teil der Kosten kann über die Pflegeversicherung und mitunter über das Sozialamt abgedeckt werden. Ansprechpartner sind örtliche Beratungsstellen in Rathäusern oder bei Wohlfahrtsverbänden und Pflegestützpunkte.

Weitere Informationen: Eine Checkliste, worauf bei der Auswahl einer geeigneten Einrichtung zu achten ist, gibt es hier.

Selbsthilfe

Wer Angehörige pflegt, kann kostenlos an einem Pflegekurs teilnehmen. Anbieter sind die Krankenkassen. Mitunter arbeiten sie mit Wohlfahrtsverbänden, Volkshochschulen oder anderen Bildungseinrichtungen zusammen. Ein wichtiger Nebeneffekt dieser Kurse ist: Sie bieten Pflegenden die Möglichkeit, sich mit anderen auszutauschen. Ansprechpartner sind die Krankenkassen.

"Es ist wichtig, dass Angehörige ab und zu aus dem Pflegealltag herauskommen", sagt Rüsing. Eine gute Möglichkeit sind auch Angehörigen- und Selbsthilfegruppen. "Hier können Pflegende über ihre Ängste und Verzweiflung sprechen, sich gegenseitig ermuntern, Tipps und Anregungen finden." Anbieter sind unter anderem die Niederlassungen der Alzheimer-Gesellschaft.

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