Palliativmedizin:Stiefkind der Medizin

Lesezeit: 4 min

"Wir können nichts mehr für Sie tun": Dieser Satz sollte aus dem Sprachschatz von Ärzten gelöscht werden, denn die Palliativmedizin hat sehr wohl noch Möglichkeiten. Sie gehört daher ins Zentrum der Heilkunde.

Ein Gastbeitrag von Norbert Schmacke

Palliativmedizin dient vordergründig dem Schutz schwerkranker Menschen vor unnötigem Leid. Erfreulicherweise ist das Netz an palliativen Diensten und Hospizen in Deutschland kontinuierlich ausgebaut worden und soll weiter gestärkt werden. Die Hemmnisse beim Aufbau dieses Netzes verweisen freilich auf ein Grundproblem. Es geht um die Frage, wie weit die mit "Palliative Care" verbundene Grundhaltung im Alltag der Medizin Rückhalt findet. Berechtigte Zweifel kommen auf, ob Palliation tatsächlich Bestandteil der Medizin ist oder als etwas Besonderes jenseits des "eigentlichen" Heilauftrags kurativer Medizin verbucht wird.

Zur Erläuterung sei auf die Begriffe Kuration und Palliation verwiesen. Wo Kuration im Sinne des klassischen Selbstverständnisses der Medizin endet und wo Palliation anfängt, das bleibt oft scharf getrennt, dabei ist der Zusammenhang wichtig: "Pallium", also einen schützenden Mantel, braucht jeder Leidende ebenso wie wohlverstandene "cura", also Fürsorge, Behandlung, Verantwortung, auch wenn diese oft verkürzt wird auf die technische Behandlung des Körpers als Objekt.

Kuration kann in dieser Tradition als Wiederherstellung vollständiger Gesundheit verstanden werden: eine Erkrankung heilt durch medizinische Maßnahmen aus. Restitutio ad integrum nennt die Medizin dieses Ideal. Umgangssprachlich heißt dies: Es ist wieder alles gut. Solche Erfolge erringt die moderne Medizin in stattlicher Zahl. Wenn es gelingt, einen bösartigen Tumor mit Skalpell, Strahlen oder Medikamenten zu beseitigen, kann von einer vollständigen Heilung gesprochen werden. Dass psychische Folgeschäden nachbestehen können, tritt aber oft in den Hintergrund, wenn das eigentliche "Krankheitsübel" beseitigt werden konnte.

Häufiger als die vollständige Heilung gelingt es, bei schweren Erkrankungen das Überleben zu verlängern. Eine gute Botschaft, aber unter Kuration im engeren Sinne darf dies nicht verbucht werden; es gibt fließende Übergänge. Fraglos lässt sich auch bei Patienten, die unter metastasierten Krebserkrankungen leiden, manchmal das Leben verlängern. Dieser therapeutische Nutzen nimmt aber mit dem Fortschritt der Erkrankung ab.

In dieser Situation taucht häufig die Frage auf, ob eine nochmalige Chemotherapie oder Bestrahlung mehr Nutzen oder mehr Schaden stiftet. Noch immer berichten Patienten davon, dass ihnen lange Hoffnung gemacht wird, bis ihnen quasi aus heiterem Himmel verkündet wird: "Wir können nichts mehr für Sie tun." Dieser Satz sollte aus dem Sprachschatz von Ärzten gelöscht werden, weil er ausblendet, was sehr wohl getan werden kann - und zugleich genau davon schnell und gekonnt entbindet.

Wer so spricht, lebt in einer Gedankenwelt, die ein klar umrissenes medizinisches Behandlungsversprechen voraussetzt - und auf der anderen Seite das vermutet, was oft abwertend als Palliation bezeichnet wird. Dann fällt auch häufig der Satz: "Besorgen Sie sich einen Platz im Hospiz". Geht es da nur um einen "Platz" oder um komplexe Behandlungen und einfühlsame Begleitung während existenziell tief greifender Lebensabschnitte?

Das diesen beiden Sätzen zugrunde liegende dichotome Denken ist außerordentlich wirkmächtig, und es sprengt das Konzept einer verlässlichen Betreuung Schwerstkranker. Die Onkologin Jennifer Temel hat 2010 gezeigt, dass die frühzeitige Einbindung von palliativen Fachkräften nicht nur die Lebensqualität von Menschen mit metastasiertem Lungenkrebs deutlich verbessert, sondern auch ihre Lebenserwartung. Die klassische, kein Ende findende, invasive Behandlung kann hingegen Leben verkürzen. Das haben manche Ärzte schon länger vermutet, diese Studie hat es erstmals belegt. Der Nutzen dessen, was heute als Palliative Care bezeichnet wird, könnte und sollte Kranken daher deutlich früher zukommen, als es im medizinischen Alltag zumeist der Fall ist.

Palliative Betreuung beginnt mit einer verständigen Aufklärung, geht weiter mit einer verlässlichen Begleitung ohne Brüche zwischen den Fachgrenzen und beinhaltet auch das, was am ehesten mit Palliation verbunden wird: einer guten Schmerzbehandlung. Es geht um die Grundhaltung und das Ziel, sich um alle Beteiligten zu sorgen, um die Kranken, ihre Angehörigen und auch um Ärzte und Pflegepersonal, die ihre Schwierigkeiten wie auch die Notwendigkeit der Hilfe allerdings häufig nicht wahrhaben wollen.

Dass es eine solche Begleitung im Alltag der Medizin so schwer hat, ist wohl am ehesten damit zu erklären, dass die Ärzteschaft den Umgang mit Unsicherheit und Angst wenig eingeübt hat. Im Studium und in der Facharztausbildung wird kaum gelehrt, wie man schlechte Nachrichten überbringt. Und die Hektik des Versorgungsalltags scheint keinen Raum für besonnene Beratung und angemessenes Zuhören zu bieten.

Aber vielleicht liegt das Problem auch tiefer. Es scheint dem ärztlichen Selbstverständnis, das oft noch allein auf naturwissenschaftlich-technischem Handeln beruht, fremd zu sein, Behandlungsversprechen mit der gebotenen Bescheidenheit zu formulieren. Dabei sind viele neurologische Leiden, aber auch die fortgeschrittene Herzmuskelschwäche und bösartige Tumore nicht im schlichten Sinne heilbar. Was spricht dagegen, die Begriffe Kuration und Palliation beiseite zu lassen und durch die Frage zu ersetzen: Welches Behandlungsversprechen kann und darf einem Kranken gegeben werden? Welches Therapieziel verfolgen Kranke, Professionelle, Angehörige und Bevollmächtigte, aber auch Gesundheitspolitik, Pharmaindustrie und Krankenkassen?

Palliative Betreuung darf nicht zu einer Parallelwelt der "richtigen" Medizin werden

Wie steht es um Nutzen und Schaden? Anders gesagt: Es ist öfter geboten, die Grenzen der Medizin anzusprechen und Therapieziele zu vereinbaren, die tatsächlich erreichbar sind. Dass die Medizin die Chancen für ein zufriedenstellendes Leben mit Krankheit in den letzten Jahrzehnten verbessert hat, ist wunderbar. Dass sie dabei aber weithin ihre Bescheidenheit verlernt hat, ist für die Patienten keine gute Botschaft. Palliation ist immer noch das Stiefkind der Medizin - und das hat leider wohl damit zu tun, dass eine ehrliche Bilanz von Nutzen und Grenzen der Medizin häufig nicht zugelassen wird.

Ärzte und Pflegekräfte, die sich der Palliative Care zuwenden, leben in einer Parallelwelt zur "regulären" Medizin. Diese für Kranke wie Ärzte nicht zufriedenstellende Spaltung gilt es zu überwinden. Das, was an komplexer Arbeit in der palliativen Betreuung geleistet wird, gehört in das Zentrum der Medizin - gleichgewichtig neben die im doppelten Sinne manchmal blendenden Erfolge der modernen Medizin.

Palliativ wie kurativ geprägtes Denken und Handeln müssen sich ergänzen. Palliation darf nicht der arme Verwandte der erfolgreichen technischen Medizin sein, der warten muss, bis die Ärzte nicht weiter wissen. Wenn Palliative Care nicht im Zentrum der Medizin beheimatet werden kann, bleibt Palliation ein untergeordneter Spezialdienst, der sich immer wieder an den tendenziell größenwahnsinnigen Versprechungen der kurativen Medizin wund läuft. Die Debatte darüber hat gerade erst begonnen.

Der Autor ist Sozialmediziner und Gesundheitswissenschaftler an der Universität Bremen. In Frankfurt findet derzeit der Deutsche Schmerz- und Palliativtag statt.

© SZ vom 06.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: