Organspenden:Verweigerte Herztransplantation löst Debatte aus

Ein Junge aus der Türkei sollte in Gießen ein neues Herz bekommen. Doch da sein krankes Herz kurz vor der Operation vorübergehend stehen blieb, wollen ihm die Ärzte nun kein Organ mehr transplantieren.

Von Christian Johnsen und Christina Berndt

Alles war gut geplant. Mitte März waren sich die Eheleute Dönmez aus Istanbul mit dem Universitätsklinikum Gießen-Marburg (UKGM) einig geworden: Ihr Sohn Muhammet Eren, damals 17 Monate alt, sollte in Deutschland ein Spenderherz bekommen. Die Transplantation war dringend, der Junge litt seit seiner Geburt an einer fortschreitenden Herzschwäche.

Seine Ärzte in der Türkei gaben ihm noch maximal sechs Monate zu leben. Am UKGM wirbt ein "International Office" um Patienten aus dem Ausland, auch für Transplantationen. Nun mussten die Eltern noch das nötige Geld zusammenbekommen. 178 000 Euro hatte ein Arzt des zum privaten Rhön-Klinikum gehörenden UKGM nach Darstellung der Eltern für den Eingriff veranschlagt, davon 128 000 Euro als Vorauszahlung. Doch bei dieser Summe blieb es nicht.

Muhammet rutscht plötzlich von der Warteliste

Tatsächlich gelang es Muhammets Eltern, einem Lehrer und einer Erzieherin, das Geld aufzubringen. Doch kurz vor seinem Abflug nach Deutschland blieb Muhammets krankes Herz auf einmal stehen. Eine Reanimation brachte ihn zurück ins Leben, und bald darauf trat Muhammet die Reise an. Doch in Gießen befanden die Ärzte, der Zwischenfall habe Muhammets Hirn geschädigt. Auf die Warteliste für ein Spenderherz würden sie ihn nun nicht mehr setzen.

Die Entscheidung hat nicht nur bei Muhammets Eltern Empörung ausgelöst. Das Schicksal des heute 21 Monate alten Jungen aus Istanbul ist Top-Thema in den türkischen Medien. "Mein Sohn hat genauso ein Recht zu leben wie andere Kinder", sagt sein Vater. Tatsächlich wirft der Fall die grundsätzliche Frage auf, ob Menschen mit Behinderungen bei der Vergabe von Spenderorganen benachteiligt werden dürfen. "Belege für einen fehlenden langfristigen Erfolg der Transplantation liegen nach unserer Auffassung jedenfalls nicht vor", betont der Anwalt der Familie Dönmez, Kai Wiegand aus Gießen.

Hilferuf für Muhammet wird Top-Tweet

Dabei hatte sich für die Familie Dönmez zunächst alles hoffnungsvoll entwickelt. Yavuz Dönmez' Schüler hatten die Verzweiflung ihres Lehrers bemerkt. Sie setzten Anfang März einen Hilferuf für Muhammet ab, der zu einem Top-Tweet wurde. Am 12. März lud deshalb die Pop-Sängerin Gülben Ergen den Vater von Muhammets in ihre Talkshow Gülbence ein.

Bei der Sendung am 13. März wurde der Kinderherzchirurg Dr. Y. aus dem UKGM live zugeschaltet. Einige Tage später stand fest: Das Geld kommt zusammen. Allerdings erfuhren die Eltern nun, die vorab benötigte Summe werde 250 000 Euro betragen. Auch das gelang.

Der Chefarzt der Kinderherzchirurgie teilte daraufhin am 21. März dem deutschen Konsulat mit, Familie Dönmez solle für drei bis sechs Monate wegen einer Herztransplantation nach Gießen kommen und benötige ein Visum. Drei Tage später stand die Familie bereit. Das Geld war da, das Visum erteilt, ein Flugzeug geordert. Doch Gießen meldete sich nicht. Am Dienstag rief Yavuz Dönmez bei Dr. Y. an. Der versprach ihm, das Budget jetzt errechnen zu lassen und es am Mittwoch mitzuteilen, dann bräuchte er nur zu zahlen und könne fliegen. Die Woche verging, ohne dass etwas geschah.

Kurz vor dem Abflug stiegen die Kosten auf 400 000 Euro

Am Wochenende kam es zu dem Herzstillstand. Dr. Y. entschuldigte sich später, die Mail mit dem errechneten Budget vergessen zu haben. Jetzt seien es 350 000 Euro geworden, der Junge könne aber wegen des Notfalls schon am Sonntag kommen, das Geld könne Montag angewiesen werden. Kurz vor dem Abflug wurde mitgeteilt, dass es nun 400 000 Euro seien - was durch eine persönliche Spende der Sängerin Gülben Ergen auch noch möglich wurde. Wie es zu den steigenden Vorauszahlungsforderungen kam, erklärte weder Dr. Y. noch das Uniklinikum auf Anfrage.

Bei Muhammets Ankunft in der Nacht des 31. März war seine Herz-Kreislauf-Situation weiterhin instabil. Die Ärzte schlossen ihn an ein Kunstherz an, um seinen Tod zu verhindern. Später teilten die Ärzte den Eltern mit, Muhammet werde taub und gelähmt bleiben. Er sei für immer auf ein Beatmungsgerät angewiesen. Drei Wochen nach der Ankunft in Deutschland empfahlen die Ärzte schließlich, die Behandlung zu beenden und das Beatmungsgerät auszuschalten. Die Eltern waren dagegen.

Ärzte weigern sich weiterhin

Seit einiger Zeit kann Muhammet nun wieder selbständig atmen. Kurze Zeit später hat er angefangen, sich zu seinen Eltern zu drehen und sie anzulächeln. Er konnte wieder sehen, das rechte Bein und den rechten Arm heben und Joghurt essen. Doch die Ärzte weigern sich weiterhin, den Jungen für die Transplantation vorzusehen.

"In mehrfach durchgeführten Transplantationskonferenzen wurde der irreversible Hirnschaden einstimmig als Kontraindikation (Gegenanzeige) für eine Herztransplantation beurteilt und dokumentiert", teilte das Klinikum auf Anfrage mit. Wegen der Schädigung eines anderen als des zu ersetzenden Organs dürfe er nicht mehr auf die Warteliste.

Diese Interpretation teilen nicht alle Fachleute: "Eine Organschädigung kann, muss aber nicht der Listung entgegenstehen", sagt der Jurist Hans Lilie von der Ständigen Kommission Organtransplantation bei der Bundesärztekammer (BÄK). Das sei eine Einzelfallentscheidung. Im konkreten Fall halte er diese aber für richtig. Das Klinikum habe sich auch mit der für Herztransplantationen zuständigen Kommission bei der BÄK abgesprochen.

"Wir müssen konsequent sein"

Auch der Leiter der Ethikkommission der Deutschen Transplantationsgesellschaft, Richard Viebahn, betont: "So traurig es im Einzelfall ist: Wir müssen konsequent sein." Es sei richtig, dass Chirurgen in den vergangenen zwei Jahren von der Philosophie "Transplantation um jeden Preis" abgerückt seien. "Man muss immer bedenken: Organe sind extrem selten. Wenn Muhammet dieses Herz bekommt, wird ein anderes Kind keines bekommen."

Wer aber auf die Warteliste kommt, das bleibt bis heute vor allem den Ärzten überlassen, ohne dass Patienten einen rechtlichen Spielraum hätten, kritisieren Patientenschützer. Behinderung dürfe kein Kriterium sein, meint Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, und fordert vom Gesetzgeber endlich feste und einheitliche Regeln.

Muhammets Geld ist mittlerweile jedenfalls aufgebraucht. Seit auf Facebook und Twitter ein Sturm der Empörung tobt, hat das UKGM zumindest angedeutet, die Hälfte der Summe zurückzuzahlen.

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