Organspende:Tabuthema Gewebespende

Wer der Organspende uneingeschränkt zustimmt, willigt damit auch in die Entnahme von Geweben ein. Der Mensch kann so zum Lieferanten von Knochenmehl, Haut und Sehnen werden - und es darf bezweifelt werden, dass sich alle potenziellen Spender dessen bewusst sind. Um Aufklärung drücken sich die zuständigen Organisationen.

Christoph Schmidt-Petri und Franz Himpsl

Es ist eine Tatsache, dass hierzulande viele Menschenleben gerettet werden könnten, wenn es nur gelänge, die Zahl der Organspenden zu erhöhen. Dies ist das ausdrücklich erklärte Ziel der kürzlich beschlossenen Neuregelung des Transplantationsgesetzes, dessen Umsetzung weiterhin kontrovers diskutiert wird. Denn die Organspende bleibt ein sensibles, ein emotional aufgeladenes Thema. Das erschwert den Blick auf die Details des Gesetzes - dabei wäre gerade dieser immens wichtig.

Wer einen sogenannten Organspendeausweis ausfüllt, der trifft streng genommen nicht eine, sondern zwei Entscheidungen. Mit der Organspende einher geht auch die Einwilligung in eine Gewebespende - die Spende also von Haut, Knochen, Herzklappen oder der Augenhornhaut. Obwohl auf den Spenderausweisen Organe und Gewebe nebeneinander aufgeführt sind, ist meist nicht bekannt, dass zwischen einer Organ- und einer Gewebespende große Unterschiede bestehen. Das ist bedrückend. Umso mehr, da es so scheint, als trügen die Politik und die damit befassten Organisationen selber zur allgemeinen Desinformation bei.

Es ist nahezu unbekannt, dass gespendetes Gewebe in gemeinnützigen Institutionen wie dem Deutschen Institut für Zell- und Gewebeersatz (DIZG) gereinigt, aufbereitet und weiterverarbeitet wird. Knochen beispielsweise werden zu Knochenmehl gemahlen oder in gebrauchsfertige Formate gestückelt. Das Endprodukt gilt de jure als Arzneimittel und wird den Ärzten auf den üblichen Vertriebswegen zur Verfügung gestellt.

Der aktuelle DIZG-Katalog hat ein entsprechendes Angebot: hochwertige Knochenchips, "gemahlen mit der Spierings Bone Mill". Komplette Achillessehnen und Patellasehnen mit vorgeformten Knochenansätzen. Menschliche Haut, zellfrei und gefriergetrocknet, in Größeneinheiten von einem Quadratzentimeter bis hin zu Gewebeflächen von 16 mal 24 Zentimetern. Weichgewebe, knorpelfreie Oberschenkelknochenköpfe, Teile des Schienbeins in Span- und Keilform.

Kein Zweifel: Bei all dem handelt es sich um medizinisch nutzbringende Mittel, die dazu beitragen können, das Leiden Kranker zu mildern - wenn auch nicht so unmittelbar wie die Organspende. So gäbe es denn an der Praxis der Gewebespende nichts auszusetzen, wenn man denn davon ausgehen könnte, dass diejenigen, die ihre Zustimmung zur Organ- wie auch Gewebespende kundtun, wissen, welchen Verfahren und Praktiken sie eigentlich zustimmen. Es spricht nicht viel dafür, dass dieses Wissen existiert.

Teile des Körpers kommen als Arzneimittel auf den Markt

Denn es herrscht Aufklärungsmangel. Weder die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) noch die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) scheinen sonderlich darum bemüht zu sein, auf ihren Internetseiten und in ihren Informationsbroschüren die notwendige Differenzierung von Organ- und Gewebespende vorzunehmen.

Vielmehr scheint man bestrebt, das vielleicht verstörende Thema Gewebespende durch das zwar ebenfalls heikle, aber insgesamt deutlich positiver besetzte Thema Organspende zu überlagern. So prangt auf der Titelseite einer BZgA-Broschüre, die über die Gewebespende informieren soll, ein bunter Schriftzug der Testimonial-Kampagne "Organpaten", die für eine "persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema Organspende" wirbt. Am Fuß der Seite ist der Slogan "Organspende schenkt Leben" zu lesen. Es geht in der Broschüre, wie gesagt, um die Gewebespende.

Auch wenn es sich bei der Verwertung einer Gewebespende formalrechtlich nicht um eine kommerzielle Nutzung des menschlichen Gewebes handelt, dürfte die Vorstellung bei potenziellen Gewebespendern für Unbehagen sorgen, dass Teile des eigenen Körpers als Arzneimittel auf den Markt kommen und damit gehandelt wird wie mit allen Arzneimitteln. Die Rede vom menschlichen Ersatzteillager scheint da nicht übertrieben. Zumal diese Praxis anders als bei der Organspende kaum der Vorstellung einer lebensrettenden "Spende" entspricht, eines Geschenks also an eine einzelne, vielleicht vom Tode bedrohte Person.

Frappierend daran ist, dass die Gewebespende von viel größerer Relevanz für uns alle ist als die Organspende. Damit eine Organspende in Betracht gezogen werden kann, müssen die Organe eines Verstorbenen zum Zeitpunkt der Entnahme noch durchblutet sein. Er muss einen - statistisch unwahrscheinlichen - Hirntod gestorben sein. Als mögliche Gewebespender eignen sich hingegen alle Verstorbenen. Die Zahl der potenziellen Spender erweitert sich also um mehr als das Zweihundertfache, von etwa 4000 Hirntoten auf buchstäblich alle Sterbefälle in Deutschland - es sind etwa 850 000 im Jahr.

Ein Szenario, in dem die Leichname fast aller Verstorbenen künftig auf die medizinische Verwendung ihres Gewebes hin untersucht und im Regelfall auch verwandt werden, ist nicht völlig unrealistisch. Es ist aber davon auszugehen, dass vielen Menschen eine solche Verwertung ihres Leichnams zuwider sein dürfte - und zwar selbst dann, wenn sie einer reinen Organspende ausdrücklich zustimmen.

Verschleppte und verschleierte Informationen

Es kann eine schockierende Erfahrung sein, wenn ihnen ungeschönt vor Augen geführt wird, worüber sie eigentlich eine Entscheidung treffen und welchen Verfahren sie ihre Zustimmung mit der Einwilligung in die Gewebespende erteilen sollen.

Oder bald vielleicht auch müssen. In Deutschland soll schließlich die Zahl der Organ- und Gewebespenden deutlich erhöht werden. Der erste Schritt in diese Richtung ist die moderate Entscheidungslösung, wie sie gerade in Gesetzesform gebracht wurde. Die Bürger sollen damit eindringlicher als bisher dazu aufgefordert werden, über ihre Bereitschaft zur Organ- und Gewebespende nachzudenken und ihre Zustimmung oder ihren Widerspruch zu dokumentieren - obgleich niemand zu einer Erklärung oder Rechtfertigung seiner Entscheidung gezwungen wird. Wohlgemerkt: Noch spricht man nur in der Theorie darüber, dass man einer Organ- und Gewebeentnahme künftig explizit widersprechen muss, um kein Spender zu sein.

Umfassende Aufklärung über Sinn und Zweck der Gewebespende wie über die dabei eingesetzten Verfahren tut not. Im Gesetzgebungsverfahren zur Entscheidungslösung wurde auf ein Studienergebnis der BZgA verwiesen, "dass Menschen, die gut informiert sind, eher einen Organspendeausweis ausfüllen und der Organspende positiv gegenüberstehen." Es ist zu bezweifeln, dass bislang gut über die Gewebespende informiert wurde. Die Politik und die entsprechenden öffentlichen Einrichtungen stehen den Bürgern gegenüber hier weiter in hoher Aufklärungsverpflichtung.

Es ist legitim, wenn eine Gesellschaft von sich fordert, dass möglichst viele ihrer Bürger die Einwilligung in die postmortale Entnahme von Organen und Gewebe geben. Dadurch kann tatsächlich vielen Kranken geholfen werden, die auf diese Spenden angewiesen sind.

Nicht erstrebenswert ist es hingegen, dass diese große Chance für die Medizin durch mangelnde, verschleppte oder verschleierte Information vertan wird. Gewebe und Organe von unzulänglich informierten, unaufgeklärten Spendern: Das kann niemand wollen.

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