Zehntausende Tote durch zehneinhalb Zeilen Leserbrief, kann das sein? Der kurze Text stand im New England Journal of Medicine, dem weltweit angesehensten Fachblatt für Ärzte, vermutlich lag es daran. Zwei Mitarbeiter der Uniklinik Boston hatten Akten von 40 000 Patienten durchgesehen, von denen knapp 12 000 Opioide bekamen. Kein Grund zur Sorge, lautete die Schlussfolgerung der Autoren, nach Akteneinsicht seien nur vier Patienten davon abhängig geworden.
Der 1980 veröffentlichte Text brachte keinen Beleg und keinen Nachweis für die kühne Behauptung. Auch kam niemand auf die Idee zu hinterfragen, ob die Patientenakten nicht schlampig geführt und daher lückenhaft waren. Doch der Leserbrief aus dem renommierten Fachjournal wurde seither in mehr als 600 Fachartikeln zitiert - und Generationen von Ärzten wurden mit dem Irrglauben sozialisiert, dass Opioide nicht süchtig machen.
72 000 Todesopfer in einem Jahr
38 Jahre später sind Hunderttausende Menschen an ärztlich verordneten Opioiden gestorben und ähnlich viele an illegalen Rauschmitteln. Denn die dem Morphin ähnlichen Substanzen machen sehr wohl abhängig und zwar schnell - was viele Menschen veranlasst, sich nach Ende der Behandlung den Stoff illegal zu besorgen. Oder verschreibungsfreudige Ärzte verordnen das Zeug einfach weiter. Gerade hat die US-Seuchenschutzbehörde aktuelle Zahlen veröffentlicht. Demnach sind 2017 mehr als 72 000 Menschen an einer Überdosis Rauschmittel gestorben, 200 pro Tag, zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Ein Großteil der Todesfälle - fast 49 000 - geht auf Opioide zurück. Die gefährlichste Substanz ist das synthetische Opioid Fentanyl, dem im Vorjahr etwa 30 000 Menschen in den USA zum Opfer fielen.
Fentanyl ist ein besonders potentes Opioid, es wirkt bis zu hundertmal stärker als Heroin. Als Medikament wird es zur Schmerzlinderung bei Operationen oder Krebs eingesetzt. Für die Drogenszene wird es hauptsächlich aus Mexiko in die USA geschmuggelt, aber auch immer häufiger im Land selbst hergestellt. Da Heroin oft mit Fentanyl gestreckt wird, kommt es immer wieder zu Überdosierungen mit schlimmen Folgen. Wie fast alle Opioide dämpft Fentanyl das Atemzentrum, was bei einer Überdosis zum Tod durch Atemstillstand führt.
Abhängige kochen Pflaster aus, um an den Stoff zu kommen
Besonders gefährlich ist Fentanyl auch deshalb, weil seine "therapeutische Breite" so gering ist. Das heißt, die Dosis, die zu einer effektiven Behandlung nötig wäre, muss nur vergleichsweise wenig überschritten werden, um tödlich zu wirken. Da Fentanyl nicht nur über die Vene und als Spray, sondern auch über die Haut als Schmerzpflaster wirkt, gab es schon etliche Todesfälle durch zu hoch dosierte oder unnötigerweise verordnete Fentanyl-Pflaster. Gelegentlich kamen bei engem Körperkontakt sogar andere zu Schaden, weil sich das Schmerzmittel gelöst hatte oder Kinder Teile davon verschluckt hatten.
Die Droge ist so potent, dass Abhängige versuchen, sich Pflasterrezepte zu erschleichen - oder benutzte Pflaster auskochen, um an den Stoff zu kommen. Wenn Süchtige die Klebestreifen zerschneiden, um nur ein Viertel auszukochen, kann es zu gefährlichen Überdosierungen kommen, weil die Substanz auf den Pflastern meist unregelmäßig verteilt ist.