Online-Umfrage zu Antidepressiva:"Antidepressiva werden viel zu leichtfertig verschrieben"

Zeitdruck, fehlende Therapieplätze und der Trend, normale menschliche Empfindungen zu pathologisieren: Ärzte schildern, warum in Europa immer mehr Antidepressiva zum Einsatz kommen.

Von Carmen Fishwick und Mark Rice-Oxley, The Guardian

Etwa 100 Ärzte und Psychiater haben sich an einer europaweiten Umfrage des britischen The Guardian und fünf anderer europäischer Tageszeitungen - Süddeutsche Zeitung (Deutschland), El Pais (Spanien), Le Monde (Frankreich), Gazeta Wyborcza (Polen) und La Stampa (Italien) - zur Einnahme und Verschreibung von Antidepressiva beteiligt. Die große Mehrheit gab an, dass in ihrem Land eine "Verschreibungskultur" herrsche, weil andere Hilfen für Menschen mit Depressionen nur unzureichend vorhanden seien.

Viele der Ärzte - aus Großbritannien, Frankreich, Italien, Deutschland, Spanien, Luxemburg, Belgien und den Niederlanden - hielten Antidepressiva in Fällen von schweren Depressionen für eine effektive Behandlungsmöglichkeit. Weit verbreitet war aber unter den teilnehmenden Ärzten die Besorgnis, dass auch normale menschliche Empfindungen wie Traurigkeit, Melancholie oder Langeweile in Diagnosen verwandelt und mit Medikamenten therapiert würden.

"Wir behandeln alltägliche Situationen: Konflikte, Trennung und die Wechselfälle des Lebens", sagte Gladys Mujica Lezzcano, eine Krankenhausärztin aus Barcelona (Spanien). "Antidepressiva werden viel zu leichtfertig verschrieben", meint Alain Vallée, Psychiater in Nantes (Frankreich). "Wer ein Antidepressivum einnimmt und keine Wirkung verspürt, denkt nicht, dass er vielleicht gar nicht depressiv sein könnte. Die Patienten glauben vielmehr, dass sie ein höher dosiertes Mittel nehmen sollten."

"In einer Gesellschaft, in der eine niedrige Toleranz gegenüber Frustration und Trübsal herrscht, verkommt die psychiatrische Behandlung zu einem Konsumgut", sagt ein Arzt aus Spanien, der seine Angaben anonym machen wollte. "An sich triviale Probleme werden 'psychiatrisiert'. Manche Patienten fordern die Verschreibung von Antidepressiva aus Gründen wie 'mein Freund hat mich verlassen'." José García-Valdecasas Campeso, Psychiater auf Teneriffa (Spanien) fügte hinzu: "Traurigkeit ist ein normales menschliches Gefühl, das keiner medikamentösen Behandlung bedarf. Soziale Probleme sollten auf der sozialen Ebene behandelt werden und nicht auf der psychiatrischen."

Nicht alle schließen sich dem Tend der zunehmenden Verschreibung an. Laut Ricardo Teijeiro, der in den Niederlanden praktiziert, sind dort Antidepressiva bei milderen Formen von Depression nicht die Mittel der Wahl. Niederländische Hausärzte würden sie nur in geringem Umfang und lediglich bei schweren Depressionen verschreiben, sagte er.

Daten der Organisation für ökonomische Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) belegen diese Beobachtung. In den Niederlanden ist die Einnahme von Antidepressiva seit 2001 um weniger als 25 Prozent angestiegen und hat sich während der zurückliegenden fünf Jahre auf einem niedrigeren Niveau stabilisiert. Zum Vergleich: In Deutschland, Großbritannien und Spanien haben sich innerhalb der vergangenen zehn Jahre die Verschreibungen verdoppelt.

Deutsche Ärzte beklagen Mangel an Therapieplätzen

Ärzte und Psychiater fühlen sich vielfältigen Zwängen ausgesetzt: durch Patienten, die verzweifelt nach einer Lösung suchen, durch Familienangehörige, die beruhigt werden wollen, durch Tage, an denen sie zu wenig Zeit für zu viele Patienten haben und durch den Mangel an alternativen Behandlungsmethoden.

Fareedoon Ahmed, Psychiatrie-Hospitant aus Essex, erklärte, die Krankheit übersteige die verfügbaren Mittel, zumindest in Großbritannien. "Depression ist ein weitverbreitetes psychiatrisches Problem mit einer großen Anzahl von Betroffenen. Nur die schwereren Fälle können innerhalb unseres Gesundheitssystems wirksam unterstützt werden."

Hannah Hudson, Ärztin in Großbritannien, erklärte, lediglich Patienten mit schweren Depressionen hätten ausreichend Zugang zu psychotherapeutischer Begleitung. "Für alle anderen sieht es dürftig aus," sagte sie. "Es gibt nur wenige Selbsthilfegruppen und oft ist der Hausarzt der einzige professionelle Ansprechpartner."

Ärzte aus Deutschland teilten diese Ansicht. "Wir haben nicht genügend Therapieplätze", sagte Simone Schliermann aus Erbach. "Meine Warteliste erstreckt sich über ein Jahr." Vor allem deutsche Ärzte beklagten zudem, dass der Staat nicht mehr in der Lage sei, eine angemessene Behandlung für die hohe Anzahl an depressiven Patienten zu gewährleisten. "Niedergelassene Psychiater haben ein Abrechnungsproblem" sagte Jörg Madlener, Neurologe aus Frankfurt. "Für 40 Euro pro Quartal und angesichts des hohen Patientenandrangs kann ich eine Depression nur mit Medikamenten behandeln."

Eine frustrierende Erkenntnis für viele Ärzte, zudem die Erfahrung zeigt, dass Antidepressiva zwar ein effektives Mittel zur Behandlung der Symptome sein können, nachhaltige Besserung aber erst durch eine Gesprächstherapie eintritt. In diesen Therapien lernen die Patienten verstehen, was mit ihnen geschieht - und vor allem, wie sie Rückfälle vermeiden können. Das Risiko, dass die Depression zurückkehrt, ist für Patienten ohne psychotherapeutische Hilfe wesentlich erhöht.

Auch Patienten haben im Rahmen der Umfrage Ihre Erfahrungen mit Antidepressiva geschildert. Ihre Berichte lesen Sie hier.

Übersetzung: Süddeutsche.de

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