Psychiatrie:Ohne Obdach, ohne Halt

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Den Europarat besorgt unter anderem die zunehmende Obdachlosigkeit in Deutschland. (Foto: Paul Zinken/dpa)

90 Prozent der Wohnungslosen haben eine psychische Erkrankung. Aber Hilfsangebote für sie sind rar. Wie ein Betroffener trotzdem den Weg zurück in die Mitte der Gesellschaft fand.

Von Jana Hauschild

Rückblickend hätte ihn eine Psychotherapie vor der Obdachlosigkeit bewahrt, sagt Andreas Jung heute. Der fast 60-Jährige hatte als Jugendlicher schon Probleme mit dem Alkohol. Als er mit seinem Studium in Marburg begann, wurde es schlimmer. Aggressiv war er unter Alkoholeinfluss nicht, eher ein Melancholiker, wie er es selbst beschreibt. Trotzdem musste er wegen des Trinkens vier Wohngemeinschaften verlassen. Nach dem letzten Rauswurf fand er keine neue Bleibe, schlief tage- oder wochenweise bei Kommilitonen oder flüchtigen Bekannten. Wenn er keine Übernachtungsmöglichkeit fand, legte er sich im Park auf eine Bank, ans Ufer der Lahn oder zog sich mit seinem Schlafsack in den Wald am Rande der Stadt zurück.

So konnte und sollte es nicht weitergehen. "Also bin ich zu dem Freundeskreis für Suchtkranke in Marburg gegangen, eine Selbsthilfegruppe. Denn ich wusste: Der Alkohol ist das Problem." Andreas Jung kam mithilfe der Gruppe vom Trinken los. Es ging bergauf. Er erhielt eine Anstellung in einem befristeten Projekt an der Universität und mietete eine Wohnung. "Ich hatte mir alles eingerichtet, ein neues Leben sollte beginnen. Doch dann kamen die Stimmen." Andreas Jung rutschte mit Mitte 30 in eine Psychose, er hatte Wahngedanken und Halluzinationen. Das Projekt an der Uni lief aus. Er beglich seine Miete nicht mehr, zu tief war er in seiner Gedankenwelt gefangen. Jung wurde zwangsweise in eine Psychiatrie eingewiesen. Die Vermieterin kündigte ihm die Wohnung. Eine Räumungsklage folgte.

Meist kommen die seelischen Probleme vor dem Verlust der Wohnung

Im Laufe des Jahres 2018 waren rund 678 000 Menschen in Deutschland wohnungslos, so die jüngste Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Die Menschen leben bei Verwandten, Bekannten, in Obdachloseneinrichtungen, nicht wenige in Flüchtlingsunterkünften oder auf der Straße.

Die Ursachen von Obdachlosigkeit sind vielfältig: familiäre Probleme, Scheidung, plötzliche Arbeitslosigkeit, finanzielle Engpässe. In der Kindheit finden sich oftmals zerrüttete Verhältnisse, nicht selten Gewalt und Missbrauch. Fast immer kommen mehrere Schicksalsschläge zusammen. Doch bei einer großen Zahl der Fälle ist die seelische Verfassung der Menschen der entscheidende Faktor.

Neun von zehn Menschen ohne Obdach erleiden im Laufe ihres Lebens eine psychische Erkrankung, offenbarte 2017 eine Studie der TU München. Die meisten der Betroffenen kämpfen demnach nicht nur mit einer, sondern gleich mit mehreren seelischen Störungen. Suchterkrankungen sind das häufigste Problem, aber auch Depressionen, Angststörungen und psychotische Erkrankungen sind verbreitet und kommen bei Wohnungslosen um ein Vielfaches häufiger vor als bei Menschen mit fester Unterkunft. Und: Bei zwei Dritteln der Betroffenen war die Erkrankung schon da, bevor sie in die Wohnungslosigkeit gerieten. Dabei kommt der Abstieg oftmals schleichend. "Zwischen den ersten Symptomen einer psychischen Erkrankung und dem Verlust der Wohnung vergehen im Schnitt sechseinhalb Jahre", sagt die Sozialpädagogin und Medizinerin Monika Brönner, eine der Studienautorinnen und Professorin an der Hochschule München.

Aber auch andersherum gilt: "Wenn ich mich in der Notlage einer Wohnungslosigkeit befinde, ist es ganz klar, dass sich dann psychische Erkrankungen auch verschlechtern können - oder erst entstehen", sagt die Psychiaterin Stefanie Schreiter von der Charité Berlin, die das Forschungsnetzwerk Wohnungslosigkeit und Gesundheit am Uniklinikum mitgegründet hat. Vor allem Suchterkrankungen entwickelten sich oft erst als Folge der Wohnungslosigkeit, weil manche Betroffene in dieser Situation Alkohol oder Drogen als Bewältigungsstrategien einsetzten, obwohl sie ihnen langfristig nicht guttun.

Für Andreas Jung war die Psychotherapie ein wichtiger Schritt. (Foto: Joya Bose)

Hinzu kommen Probleme am Wohnungsmarkt. "Wir haben zu Beginn meiner Arbeit in der psychiatrischen Versorgung vor knapp zehn Jahren im letzten Drittel der Behandlung mit Patienten die Wohnungslage geklärt und dann gemeinsam mit ihnen bei Immoscout nach Wohnungen geguckt. Das machen wir nicht mehr, denn es gibt für diese Menschen keine Angebote mehr auf dem herkömmlichen Wohnungsmarkt", sagt der Mediziner Stefan Gutwinski, der ebenfalls an der Berliner Charité zu Wohnungslosigkeit und seelischer Gesundheit forscht.

"Die Probleme am allgemeinen Wohnungsmarkt schlagen bei Menschen mit psychischen Erkrankungen stärker durch. Sie gehören zu einer vulnerablen Bevölkerungsgruppe", ergänzt der Versorgungsforscher Professor Hans-Joachim Salize vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim. Geraten Betroffene in Wohnungsnot, seien sie oft nicht so flexibel und handlungsfähig wie gesunde Personen, könnten nicht so gut auf die Problematik reagieren.

Im Wohnheim erlebte Andreas Jung Gewalt

Gemeinsam mit Kollegen hat Salize in dem regionalen Projekt "MotiWohn" versucht, die Menschen aufzufangen, bevor sie in die Wohnungslosigkeit stürzten. Dafür haben sie bei sozialen Trägern, Jobcentern und dem gemeinnützigen Wohnungsbau nach Personen gefragt, die dort Hilfe wegen einer unsicheren Wohnsituation suchten, und bei denen der Verdacht auf eine unbehandelte psychische Störung bestand. Wenn von den Betroffenen gewünscht, nahmen Sozialarbeiter und Psychologen Kontakt zu diesen Menschen auf und halfen ihnen durch die Krise. Mit Erfolg: Keiner der Teilnehmer, die vor allem unter Depressionen oder Angststörungen litten, kam dem Wohnungsverlust auch nur nahe. Stattdessen erhielten sie praktische Hilfen oder auch Psychotherapie.

Als Andreas Jung aus der psychiatrischen Klinik entlassen wurde, stand er wieder ohne Bleibe da. Sein gesetzlicher Betreuer vermittelte ihm einen Schlafplatz in einem Obdachlosenheim. Vier Personen wohnten hier in einem Raum, die meisten im Wohnblock waren alkoholabhängig. Ein Jahr lang lebte er hier. In dieser Zeit ging er nur zur frühesten Stunde in die Kaufhalle und hoffte, dass ihn niemand sah. Zu einer Essensausgabe für Obdachlose wollte er nicht gehen, eine grundtiefe Scham hielt ihn ab. In der Kaufhalle bezahlte er immer bei der gleichen Kassiererin, weil diese ihn freundlich grüßte. Im Wohnheim und vor dessen Tür erlebte er ganz andere Dinge. Kinder warfen Steine nach ihm. Mitbewohner verprügelten ihn, wegen seiner Handlungen im Wahn. Einer stellte ihm eine Flasche Schnaps hin, um ihn herauszufordern.

Andreas Jung suchte sich schließlich Hilfe in einer psychiatrischen Klinik. Die Mitarbeiter dort vermittelten ihm einen Platz im betreuten Wohnen sowie einen Job in einer Behindertenwerkstatt. Ein erster Schritt zurück ins normale Leben.

Die Verzahnung von Wohnungsloseneinrichtungen und Psychiatrien erscheint angesichts der Statistiken so logisch wie sinnvoll. Trotzdem: Kooperationsprojekte gibt es zwar mittlerweile in vielen großen Städten, aber nicht flächendeckend und regulär. Meist sind es regionale Initiativen, die die Zusammenarbeit anstoßen. In einigen Städten suchen vereinzelt Psychiater oder Psychotherapeuten die Menschen auf der Straße auf, beginnen Gespräche mit ihnen und können sie manchmal in Behandlung oder andere Hilfestrukturen bringen. Standard ist das nicht.

Ohnehin ist es für Menschen ohne Obdach bereits schwer, medizinische oder psychologische Hilfe zu erlangen. "Scham und die Umstände der psychischen Beeinträchtigung hemmen die Menschen, sich Hilfe zu suchen", sagt Monika Brönner. Viele wüssten zudem gar nicht, welche Angebote es überhaupt für sie gibt. Der Mannheimer Psychiater Salize ergänzt: "Was die Menschen brauchen, ist Vertrauen. Das muss man erst einmal herstellen. Die meisten sind desillusioniert, haben eine ausgeprägte Scheu vor Ämtern oder jeglichen Institutionen, weil sie dort negative Erfahrungen gesammelt haben."

Allein einen Termin bei einem Arzt auszumachen und dann auch einzuhalten, kann für Menschen ohne Wohnung eine immense Herausforderung sein. Viele verlieren das Gefühl für Zeit, haben keinen Kalender und keine Uhr. Manche haben ein Handy, aber es ist auch nicht einfach, es regelmäßig mit Strom und Guthaben aufzuladen. Dazu kommt bei einer Mehrheit der Betroffenen, dass sie mit ihrer Adresse auch ihre Krankenversicherung verloren haben.

"Das Wichtigste, was die Menschen aber brauchen, ist es doch, zur Ruhe kommen zu können, so wie es nur in stabilen Wohnverhältnissen möglich ist", sagt Medizinerin Brönner und lobt Ansätze wie das Projekt Housing First, das es seit wenigen Jahren in einigen deutschen Städten gibt. Wohnungslosen wird dabei bedingungslos eine Wohnung vermittelt. "Wenn die drängende Situation, sich jede Nacht einen Schlafplatz suchen zu müssen, behoben ist, erst dann können sich die Menschen doch einer Behandlung wirklich zuwenden", betont Brönner.

Andreas Jung lebte zehn Jahre in der Einrichtung für betreutes Wohnen - und schaffte es in dieser Zeit wieder in die gesetzliche Krankenversicherung. Er begann eine Psychotherapie, endlich war es ihm möglich. Vor wenigen Jahren absolviert er bei dem Verein Ex-In, kurz für Experienced Involvement, eine Ausbildung zum Genesungsbegleiter. Fortan steht er Menschen, die akut psychisch erkrankt sind, mit offenem Ohr oder beratend zur Seite. Halbtags arbeitet er bei einem psychosozialen Träger in Marburg, hält inzwischen aber auch Vorträge auf Tagungen von psychiatrischen Verbänden und Gesellschaften und bildet für Ex-In aus. Dort lernte er auch die Psychiaterin Stefanie Schreiter von der Charité kennen und unterstützt nun das Berliner Forschungsnetzwerk mit seinen Einblicken.

Jung ist wieder mitten in der Gesellschaft angekommen, wird als kluger Kopf mit Psychiatrieerfahrung geschätzt. Er hat wieder eine eigene Wohnung, mit Balkon und einem kleinen Aquarium im Wohnzimmer. Das Sofa ist sein Lieblingsort. "Wenn ich dort sitze, den Fischen hinterherschaue und dabei ein Buch in der Hand habe, dann geht es mir gut."

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