Die Visite verlief hektisch, der Chefarzt war schlecht gelaunt. Als er am Bett einer älteren Patientin mit Herzbeschwerden stand, sagte er zu den Assistenzärzten, die einen Kreis um ihn bildeten, dass es sich hier ja wohl um einen typischen Fall von TS handele. TS steht im Mediziner-Jargon für eine Trikuspidalklappen-Stenose - die meist nicht besonders bedrohliche Verengung einer Herzklappe. Die Patientin hatte aufmerksam zugehört. Nach der Visite sagte sie zu dem Assistenzarzt, der sie betreute: "Das ist das Ende." Schließlich könne TS ja nur "terminale Situation" bedeuten.
Obwohl der junge Arzt der Dame erklärte, dass sie sich nicht zu sorgen brauche, verschlechterte sich ihr Zustand rapide. Sie bekam Atemnot, in ihren Lungen sammelte sich Flüssigkeit. Der Arzt alarmierte seinen Chef, dass er die Patientin dringend aufklären sollte, wie er seine Bemerkung gemeint habe. Als der Chefarzt abends nochmals bei ihr vorbeikam, war sie am Lungenödem gestorben. Wahrscheinliche Diagnose: Tod durch Hoffnungslosigkeit und negative Erwartungen.
Der amerikanische Kardiologe und Friedensnobelpreisträger Bernard Lown schildert dieses Erlebnis mit einer Patientin, die sich zu Tode ängstigte - er selbst war der junge Assistenzarzt - in seinem Buch "Die verlorene Kunst des Heilens". Dem guten Arzt ist das Wort schließlich das wichtigste therapeutische Hilfsmittel überhaupt. Es kann mächtiger sein als jedes Medikament und Skalpell. Deshalb hat der ungarische Psychoanalytiker Michael Balint früh den Begriff von der "Droge Arzt" geprägt.
Mit ihren Worten können Ärzte aber nicht nur heilen und lindern, sondern auch verletzen und sogar töten. Unbedachte Äußerungen haben schon viele Patienten irritiert - und vermutlich ihre Prognose deutlich verschlechtert. Im Deutschen Ärzteblatt schildern Mediziner um Winfried Häuser, mit welchen Sätzen Ärzte ihre Patienten verunsichern und ihnen Schaden zufügen können (Bd. 109, S. 459, 2012). Typische Beispiele finden sich in der Grafik.
Besonders im Krankenhausalltag unterlaufen Ärzten wie Pflegekräften immer wieder Äußerungen, die nicht böse, sondern sogar hilfreich gemeint sind - aber dennoch fatale Wirkungen auslösen können. Wissenschaftler untersuchen die vielfältigen Ausprägungen, in denen negative Gefühle in der Medizin ihre Macht entfalten.
Die Nocebos (wörtlich: "Ich werde schaden") gelten als Gegenstück zum Placebo. Fast jeder Patient kennt das Phänomen, dass er Nebenwirkungen spürt, wenn ihm Nebenwirkungen vorhergesagt werden. "Schlechte Neuigkeiten fördern schlechte Physiologie", sagt Clifton Meador von der Vanderbilt-Universität. Krebsärzte wissen, dass etlichen Patienten bereits vor der Chemotherapie schlecht wird und sie schon Tage vorher oder auf dem Weg ins Krankenhaus erbrechen müssen. Es ist die Erwartungshaltung, die ihnen übel aufstößt.
In der Fachliteratur sind etliche Fälle von Patienten dokumentiert, bei denen Krebs im Endstadium diagnostiziert wird. Die Kranken, ihre Familien und auch die Ärzte glauben fest daran, dass dem Patienten nur noch wenige Monate bleiben. Wenn die Kranken dann tatsächlich einige Wochen später sterben, bietet sich den Ärzten gelegentlich auf dem Seziertisch eine Überraschung: Bei der Obduktion zeigen sich Tumore, die noch relativ klein sind und keine anderen Organe infiltriert und auch keine Metastasen gebildet haben. "Manche Menschen sterben nicht an Krebs, sondern daran, dass sie glauben, an Krebs zu sterben", sagt Clifton Meador, der solche Fälle genauer untersucht hat. "Wenn man von allen so behandelt wird, als ob man bald sterben müsse, glaubt man das irgendwann auch. Alles im Leben dreht sich dann nur noch um das Sterben."
Gerade die besonders ängstlichen Patienten legen jedes Wort des Arztes auf die Goldwaage. Leider wird in der medizinischen Ausbildung noch immer zu wenig Wert auf die Gesprächsführung gelegt. "Patienten wissen in der Klinik oft nicht mehr, was mit ihnen gemacht wird und warum. Sie werden immer unsicherer und ängstlicher und halten das Unwahrscheinliche für wahrscheinlich", sagt Bernard Lown. "Sie gehen in der Medizin verloren."
Das Aufklärungsgespräch stellt ein besonderes Dilemma dar. Einerseits sind Ärzte dazu verpflichtet, Patienten über mögliche Nebenwirkungen und andere Risiken zu unterrichten, damit diese eine informierte Entscheidung treffen können. Andererseits überfordern und verunsichern mehrseitige Aufklärungsbögen und Beipackzettel und das Gespräch über jede mögliche Komplikation - und sei sie noch so selten.
"Der Schaden durch Nocebos ist enorm", sagt Manfred Schedlowski, Psychologe an der Uni Essen. "Viele Menschen nehmen Medikamente aus Angst vor Nebenwirkungen schon nicht mehr ein - Ärzte müssten besser darüber aufklären." Kaum ein Mediziner sage seinen Patienten, dass Pharmafirmen verpflichtet sind, jede Nebenwirkung, die aufgetreten ist, aufzulisten, "auch wenn es wahrscheinlicher ist, vom Blitz getroffen zu werden".
Die Autoren um Winfried Häuser schlagen daher vor, dass Ärzte im Aufklärungsgespräch betonen, wie verträglich eine Therapie ist. Statt zu erwähnen, dass fünf Prozent der Patienten Nebenwirkungen spürten, könne man schließlich auch sagen: "Die meisten Patienten vertragen das Medikament sehr gut."
Auch können Patienten zustimmen, dass sie nicht über jede harmlose Nebenwirkung informiert werden, wenn sie etwas verschrieben bekommen und nur aufgeklärt werden, wenn schwere oder irreversible Folgen drohen. Dieses Vorgehen wäre sogar der Gesundheit der Patienten zuträglich: 2011 ergab eine Untersuchung, dass Menschen, die ausführlich über lästige aber ungefährliche Nebenwirkungen einer Behandlung aufgeklärt wurden in der Folge auch häufiger unter genau jenen Nebenwirkungen litten.
Ärzte sollten nicht nur darauf achten, wie sie ihre Worte wählen, um negative Vorstellungen bei Patienten zu vermeiden ("Sie sind ein Risikopatient"). Sie können das Gespräch auch so lenken, dass der Patient bei einer kleinen Abweichung nicht sofort vermutet, schwer krank zu sein. Der Satz: "Sie haben im EKG einen Rechtsschenkel-Block", ist beispielsweise heikel, denn dass es sich dabei meist um eine harmlose Normvariante handelt, hört der Patient vor lauter Schreck oft nicht mehr. Manchmal ist es besser, dass Ärzte gar nichts sagen, statt den fragilen Gemütszustand, in dem sich viele Patienten ohnehin befinden, weiter zu erschüttern.