Nierenspende:Geben und Nehmen

Lamnauar Bijjou schenkte seiner Frau Sylvia eine Niere. Jetzt wird alles gut, dachten sie. Es kam anders. Die Ehe ging in die Brüche, bei dem Mann versagte das ihmverbliebene Organ. Was nun? Ein Treffen mit dem Paar.

Von Christina Berndt

Jede Beziehung ist ein Geben und Nehmen. Und es ist meist nur schwer auszumachen, welcher Partner über die Jahre mehr von sich in die Beziehung einbringt. Das war auch in der Ehe von Lamnauar und Sylvia Bijjou so. Doch dann kam das Jahr 2006. Sylvia Bijjou ging es noch schlechter als in den vielen Jahren zuvor. Und so wurde Lamnauar zu dem, der gab. Greifbar war das, was der Ehemann seiner kranken Frau zu überlassen bereit war, ein extrem persönliches und individuelles Geschenk, knapp 200 Gramm schwer und körperwarm: Er spendete ihr seine rechte Niere.

Er behalte ja schließlich die linke, dachte sich der gebürtige Marokkaner. Außerdem sollte es seiner Frau, die damals schon seit mehr als 20 Jahren unter einer schweren Nierenfunktionsstörung litt, endlich besser gehen. Sie sollte nicht mehr ständig Krämpfe bekommen, weil ihr Körper sich langsam vergiftete, sie sollte sich nicht mehr so schlapp und elend fühlen. Und vielleicht mag er auch gehofft haben, dass er durch seine großzügige Spende selbst ein besseres Leben führen könnte. Dass sie mehr reisen würden, häufiger ausgehen könnten, einfach unbeschwerter leben? "Nein, das spielte keine Rolle", sagt der 60-Jährige. Er sagt es mit seiner sanften Stimme, freundlich und ohne Pathos. Und man glaubt es ihm sofort, wie er da, anscheinend durch nichts aus der Ruhe zu bringen, auf seinem Stuhl am Kaffeetisch sitzt: "Ich habe nur an sie gedacht."

Es war ein Schritt, der beiden an die Nieren ging. Anders als die vielen rührenden Geschichten, die immer wieder in der Presse zu lesen sind, die Geschichten des SPD-Politikers Frank-Walter Steinmeier oder die des DGB-Vorsitzenden Michael Sommer, die beide ihren Ehefrauen eine Niere spendeten, nahm die große Tat von Lamnauar Bijjou kein glückliches Ende. Man könnte auch sagen: Im Falle der Familie Bijjou ist das Worst-Case-Scenario eingetreten, der schlimmste vorstellbare Fall.

Die Ärzte sagten immer nur: Es wird funktionieren. Sie haben ihnen so vertraut

Nichts nützte die selbstlose Spende am Ende. Aber sie richtete unermesslichen Schaden an: Zweieinhalb Jahre nach der Transplantation schon verlor Sylvia Bijjou die Niere ihres Mannes. Ihr Körper rebellierte gegen das fremde Organ. "Das war tragisch, aber akzeptabel", sagt die selbstbewusste 52-Jährige, die ebenso emotional wie analytisch wirkt. "Wir hatten damit gerechnet, dass das passieren könnte." Doch dann geschah etwas, was für die inzwischen geschiedenen Eheleute völlig unerwartet kam: Auch die eine Niere, die Lamnauar Bijjou noch geblieben war, begann ihren Dienst einzustellen.

Lamnauar Bijjou ist kein Mensch, der sich leicht aufregt. "Ich nehme das jetzt einfach so. Man kann ja nichts daran ändern", sagt er leise lächelnd. "Schade" sei es, dass seine beiden Nieren nun verloren sind. "Erst diese Freude, dieses Positive. Und nun ist es in einem Schock geendet."

Januar 2013 stand im Kalender, als sich das Unheil ankündigte. Damals stellte Lamnauar Bijjous Arzt bei einer Routine-Nachuntersuchung einen auffällig hohen Kreatininwert fest. Kommen Sie bald wieder, wir müssen das noch einmal kontrollieren, sagte er. Doch beim nächsten Mal war der Wert noch schlechter.

"Das war für mich der ultimative Schock", sagt Sylvia Bijjou. Eine kaputte Niere, das wäre für den Mann ja gar kein Problem gewesen - wenn er ihr nicht zuvor seine zweite gegeben hätte. "Hätte ich das geahnt, hätte ich niemals eine Lebendspende angenommen", sagt sie. Und an ihn gewandt: "Ich war, glaub ich, viel verzweifelter als du. Ich habe innerlich getobt."

"Ich hatte keinen Groll", sagt er.

Dass sich zwei Menschen "in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen", verlangt das Transplantationsgesetz, damit Ärzte überhaupt eine Lebendspende durchführen dürfen. Diese Verbundenheit ist bei den Bijjous immer noch zu spüren, obwohl sie schon getrennt lebten, als Sylvia Bijjou die ihr überlassene Niere abstieß. Beiden ist kaum anzumerken, dass ihre inneren Organe nicht richtig arbeiten. Sie sehen sogar blendend aus.

"Das ist Disziplin", sagt sie. "Es muss nicht jeder sehen, dass ich krank bin."

"Das ist Persönlichkeit", sagt er. "Ich könnte mich nicht hinstellen und sagen: Ich bin krank und gebe mich auf."

Wenn die Nieren nicht mehr wollen, ist das kein Todesurteil. Anders als beim Versagen von Leber oder Lunge kann den Patienten nicht nur durch eine Transplantation, sondern auch durch Maschinen dauerhaft geholfen werden. Seit Jahrzehnten schon gibt es Geräte, die die Arbeit der Nieren übernehmen, die das Blut filtern, damit es den Körper nicht vergiftet.

In manchen Broschüren steht sogar, dass Nierenspender länger leben

Auf eine solche Dialyse sind beide Bijjous nun angewiesen. Lamnauar Bijjou hat genau das Leiden, von dem er seine Frau einst befreien wollte. Ein schweres Leiden. Nicht nur wegen der ständigen Blutwäsche, die große Einschränkungen im Alltag verlangt, die Reisen - etwa zur Familie, ins geliebte Marokko - unendlich kompliziert machen. Es gilt auch, salzarm zu essen, den Blutdruck niedrig zu halten, möglichst wenig Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Kaum einen Schluck trinkt Lamnauar Bijjou während des mehrstündigen Gesprächs: Bloß nicht noch häufiger dialysieren müssen, als es ohnehin schon nötig ist.

Viele Dialyse-Patienten wünschen sich nichts sehnlicher als eine Transplantation. Es geht ihnen oft besser danach, sie sind leistungsfähiger, nicht mehr so oft müde, und sie leiden auch weniger unter Gedächtnisstörungen. Doch der Bedarf an Organen übersteigt die Zahl der Spenden von Hirntoten dramatisch. Deshalb propagieren Ärzte immer stärker die Spende von Lebenden.

Oft hören Dialysepatienten den Hinweis schon im ersten Gespräch: Ob nicht ein Angehöriger bereit sei zu spenden? Die Lebendspende wird dann heftig beworben: Die Organe von Lebenden seien frischer, gesünder als die von Hirntoten. Der Empfänger könne damit besser und länger leben. Mehr als 30 Prozent beträgt inzwischen der Anteil der Lebendspenden unter den Nierentransplantationen in Deutschland. An einzelnen Transplantationszentren ist der Anteil besonders hoch. Zu diesen Spitzenreitern gehört auch das Universitätsklinikum Freiburg, wo sich die Bijjous 2006 transplantieren ließen.

Doch während sich alles um den Nierenkranken dreht, tritt die Sorge um den Spender oft in den Hintergrund. Auf die Risiken, die ihm drohen, hätten ihn die Ärzte viel zu wenig hingewiesen, sagt Lamnauar Bijjou: "Ich hatte keine Vorstellung." Von Spätfolgen sei in den Aufklärungsgesprächen nie die Rede gewesen. "Ich habe den Ärzten so vertraut. Ich habe nicht einmal Angst gehabt vor der Operation. Es hieß immer nur: Sie sind gesund, es wird funktionieren." Zum Schluss fragte der Arzt noch: Welche Niere möchten Sie spenden? "Da habe ich ganz selbstverständlich gesagt: Natürlich gebe ich ihr die bessere."

Am Uniklinikum Freiburg ist man in einer schwierigen Situation. Denn während die Bijjous ihre Sicht der Dinge erzählen können, dürfen die Ärzte wegen ihrer Schweigepflicht keine Stellung zu dem Fall nehmen: "Es ist bei uns aber generell so, dass Empfänger und Spender einer Lebendnierenspende von zwei behandelnden Ärzten aufgeklärt werden, auch über mögliche Spätfolgen", teilt der Pressesprecher mit. Anschließend würde die Lebendspendekommission der Ärztekammer die Risiken noch einmal ansprechen.

Wollten sie von den möglichen Gefahren angesichts der verlockenden Lebendspende vielleicht nur nichts wissen? "Die Darstellung des Arztes war durch und durch positiv", entgegnet Sylvia Bijjou und fügt selbstkritisch hinzu: "Aber ich muss gestehen, irgendwo habe ich mich da auch blenden lassen. Ausgerechnet ich als Skeptikerin habe dem Arzt einfach geglaubt."

Heute wundere sie sich selbst über ihre Blauäugigkeit. Schließlich wusste sie als Nierenkranke ja gut genug, was es bedeutet, mit verminderter Organkraft leben zu müssen. Und dass das auch soziale Folgen hat: Keine Lebens- und keine Unfallversicherung versichert einen Menschen, der nur eine Niere hat. Vorhersehbar eigentlich, dass sich bei Erwerbsunfähigkeit niemand für den Spender zuständig fühlt, der sein Schicksal ja schließlich ohne Not herbeigeführt habe. Die Spende sei doch "Selbstverstümmelung" gewesen, musste sich ein Betroffener einmal sagen lassen. Erst seit der Novellierung des Transplantationsgesetzes im Jahr 2012 werden Spendern nun mehr Rechte eingeräumt.

Kein Arzt habe sie auf diese sozialen Risiken hingewiesen, die für ihren Ex-Mann nun Realität geworden sind, sagt Sylvia Bijjou. Er ist erwerbsunfähig, seine gesamte Lebensplanung ist perdu. Meterhoch türmen sich bei ihm zu Hause die Kartons mit Medizinprodukten. Denn jeden Tag benötigt er für seine Dialyse soviel Material, wie in eine Bananenkiste passt. Einmal im Monat wird geliefert.

Während Sylvia Bijjou alle zwei Tage eine klassische Blutwäsche durchführt, hat sich Lamnauar Bijjou gemeinsam mit seinen Ärzten für eine Bauchfelldialyse entschieden. Mehrmals am Tag lässt er zwei Liter Flüssigkeit in seinen Bauchraum laufen, wo dann das Bauchfell die Filtration der Giftstoffe übernimmt.

Zweifelsohne ist die Geschichte der Bijjous besonders tragisch. Und wie es sich für Worst-Case-Szenarien gehört, sind solche schrecklichen Geschichten wenigstens selten. Dass ein Lebendspender seine verbliebene Niere verliert, ist deutschlandweit erst wenige Male bekannt geworden. Doch andere Negativfolgen einer solchen Spende sind zahlreich. Kaum ein Aufklärungsbogen an deutschen Kliniken mache dies deutlich genug, sagt Ralf Zietz, der Vorsitzende der Interessengemeinschaft Nierenlebendspende. In seinem Verein haben sich Menschen zusammengefunden, denen es nach einer Organspende gar nicht gut ging.

Eine Lebendspende ist eine ungeheure Herausforderung für die Seelen aller Beteiligten

Zietz selbst weiß kaum noch, wie er seine Familie ernähren soll, seit er seiner Frau eine Niere abgetreten hat. Er leidet unter Fatigue, einer bleiernen Müdigkeit, die mit Konzentrationsstörungen, Reizbarkeit, Depressivität und Schmerzen einhergehen kann. Fatigue ist wohl eine der häufigsten Komplikationen der Spende. Viele Ärzte führen diese auf die Psyche zurück - etwa darauf, dass sich die Hoffnungen der Spender nicht erfüllt haben; sie den Schritt tief in ihrem Inneren bereuen. Es sind aber auch organische Ursachen möglich. "Der Mensch kommt ja nicht umsonst mit zwei Nieren auf die Welt", sagt Zietz. "Eigentlich braucht er beide." Nierenkranke leiden häufig unter Konzentrationsstörungen und Müdigkeit. Warum sollte das bei Menschen, die nur noch eine von zwei Nieren haben, nicht ebenso der Fall sein? Schließlich ist bei vielen Lebendspendern die Nierenfunktion eingeschränkt. Der eigentliche Skandal aus Zietz' Sicht ist neben der fehlenden Aufklärung daher: dass die Spätfolgen der Spende kaum untersucht sind.

Das zu ändern, ist Sylvia Kröncke angetreten. Die Medizinische Psychologin vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) hat eine Studie initiiert, die das Schicksal von Lebendspendern nachverfolgen soll. Anhand ihrer eigenen Daten und der internationalen Fachliteratur kommt Kröncke zu dem Schluss, dass die Lebensqualität mancher Spender tatsächlich sinkt. "Zu einem nicht unerheblichen Anteil" kommt es nach der Transplantation auch zur gefürchteten Fatigue, berichtete Kröncke auf der Jahrestagung der Deutschen Transplantationsgesellschaft. Auch wenn die Gründe noch unklar seien: "Man sollte das nicht verharmlosen." Sie sage den Lebendspendern am UKE immer: "Es kann sein, dass Sie nach der Operation das Niveau Ihrer Leistungsfähigkeit nicht wieder erreichen. Wir gehen aber davon aus, dass es Einzelfälle sind, in denen das geschieht."

So deutlich werden wenige Kliniken. Meist wird den Patienten erzählt, dass die verbliebene Niere die Arbeit der fehlenden voll übernehme. Dass es ihnen drei Monate nach der Spende genauso gut gehen werde wie vor dem Eingriff. "Ich kann mich noch erinnern an die Broschüren, in denen es heißt: Nierenspender leben länger", ärgert sich Sylvia Bijjou. Es stimmt zwar, dass Nierenspender in vielen Studien mindestens genauso lange leben wie die Allgemeinbevölkerung. "Aber dabei wird ausgeklammert, dass die Spender vor dem Eingriff gesünder waren als die Normalbevölkerung mit ihren vielen alten und chronisch kranken Menschen", sagt die Psychologin Kröncke.

Sie müssten also deutlich länger leben, wenn ihnen die Spende nicht schadet.

Manche Ärzte reden die Spende womöglich schön, weil sie gerne viel transplantieren möchten: die Kassen füllen, das Renommee vergrößern. Doch viele sind gewiss auch vom Segen der Lebendspende überzeugt. Meist geht ja alles gut. Beide Partner sind glücklich, dass der Kranke nun wieder mehr Energie hat, dass sie zusammen mehr unternehmen können: Sich noch ein paar schöne gemeinsame Jahre machen - das war auch das Ziel von DGB-Chef Sommer. Viele Spender sind so leistungsfähig wie eh und je - Frank-Walter Steinmeier meistert sogar die Strapazen im Amt des Außenministers.

Bei den Bijjous war alles anders. Für Sylvia Bijjou war die Spende von Anfang an kein Segen: "Nach der Operation habe ich mich erst einmal gut gefühlt", erzählt sie. "Aber nach vier Wochen fingen die Probleme an. Die Dosis der Immunsuppressiva musste erhöht werden. Ich litt unter massiven Nebenwirkungen - Krämpfen, Durchfällen, Übelkeit. Es ging mir so schlecht wie selten zuvor." Und zugleich mochte sie darüber kaum sprechen. "Mein Mann sollte sich nicht auch noch schuldig fühlen. Seine Organspende war ja eine so große Geste. Er sollte nicht wissen, dass sie mir Probleme bereitete."

Eine Lebendspende bedeutet eine ungeheure Herausforderung für die Seelen aller Beteiligten. Schon die Frage nach einem potenziellen Spender bringt Familien oft in Aufruhr. Wer möchte gerne spenden? Aus welchen Motiven? Erwartet er ewige Dankbarkeit? Dass sich die Beziehung nun dramatisch verbessert? Womöglich will der Kranke gar nicht ein Organ von jedem. Die meisten Eltern werden gerne für ihre Kinder spenden - und jedes Risiko in Kauf nehmen. Aber ist es richtig, wenn die Generationenfolge verdreht wird, wenn junge Menschen sich für ihre alten Eltern operieren lassen? Und wie stark werden jene Verwandten unter Druck gesetzt, deren Blutgruppe als einzige passt?

"Ich hoffe, dass ich auf dich keinen Druck ausgeübt habe", sagt Sylvia Bijjou zu ihrem Ex-Mann. "Also, außer dadurch, dass es mir schlecht ging."

"Druck?", fragt er. "Na ja, es gab 20 Jahre lang Druck. Ich habe das alles ja miterlebt. Diesen Schmerz. Wie sie gelitten hat."

Seine Niere hat man ihr längst wieder herausgenommen. Sonst müsste sie wegen des Organs, das ohnehin nicht mehr funktioniert, immer weiter Immunsuppressiva schlucken. Dass sie dieses wertvolle Geschenk abgestoßen hat, wird für ihn wohl kein schönes Gefühl gewesen sein? "Ich habe es so akzeptiert", sagt er.

Und hat sie jetzt ein schlechtes Gewissen? "Das hat mir alles schon sehr wehgetan", sagt sie. "Es ist aber auch nicht so, dass ich daran verzweifle. Es war unser beider Entscheidung. Und ich bin immer noch sehr dankbar."

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