Neurowissenschaft:Auf der Jagd nach der Expansion des Denkens

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Ein Mann kontrolliert mit Hilfe eines EEG-Headsets die Lichtinstallation des Künstlers Marcus Lyall. Die Frage ist nur: Wie ist es dazu gekommen, dass das menschliche Gehirn solche Fähigkeiten besitzt? (Foto: dpa)
  • Kein anderes Tier hat ein im Verhältnis zum Gesamtkörpergewicht so stattlichen Denkapparat wie der Mensch.
  • Entstanden ist es schrittweise im Zuge der Evolution, so wie auch die Fähigkeiten der Vorfahren von Homo sapiens allmählich zunahmen - bis das Schädelvolumen vor etwa 100 000 Jahren ein stabiles Niveau erreichte.
  • Nun berichten Forscher, dass eine exklusive Gruppe von Genen für das ausgedehnte Wachstum des menschlichen Denkapparates verantwortlich sein soll.

Von Kathrin Zinkant

Das menschliche Gehirn ist zweifellos ein faszinierendes Ding, aber noch ein bisschen faszinierender erscheint vielleicht das Denkorgan von Profi-Fußballern. Für alle jedenfalls, die schon immer mal unter die Schädeldecke eines Rekord-Bundesligaspielers gucken oder sogar in einem solchen Gehirn herumlaufen wollten, haben die Planer des Senckenberg Naturmuseums in Frankfurt am Main zu Beginn dieser Woche eine Sensation angekündigt: Das Neue Museum will den Besuchern zu seiner Eröffnung ein begehbares Modell des Gehirns des ehemaligen Eintrachtspielers Karl-Heinz "Charly" Körbel darbieten. Ein monströses Exponat, das eine herausragende und entwicklungsgeschichtlich entscheidende Eigenschaft des menschlichen Denkorgans auf die Spitze treibt - nämlich seine Größe.

Etwa 1400 Gramm wiegt das Gehirn eines ausgewachsenen Menschen. Kein anderes Tier hat einen im Verhältnis zum Gesamtkörpergewicht so stattlichen Denkapparat, geschweige denn ein Hirn mit annähernd großen Bereichen für höhere kognitive Fähigkeiten. Entstanden ist es schrittweise im Zuge der Evolution, so wie auch die Fähigkeiten der Vorfahren von Homo sapiens allmählich zunahmen - bis das Schädelvolumen vor etwa 100 000 Jahren ein stabiles Niveau erreichte. Was genau aber machte das menschliche Gehirn so groß? Zwei Teams von Genetikern wollen dieses Geheimnis jetzt gelüftet haben.

Man kann im Labor praktisch zuschauen, wie einzelne Gene ihre Wirkung entfalten

Wie die Forscher um David Haussler von der University of California in Santa Cruz und Pierre Vanderhaeghen von der Université Libre de Bruxelles in der aktuellen Ausgabe des hochrangigen Fachjournals Cell berichten, soll eine exklusive Gruppe von Genen für das ausgedehnte Wachstum des menschlichen Denkapparates verantwortlich sein, und damit von zentraler Bedeutung für die Evolution des Menschen. Die Gene und die zugehörigen Eiweiße, Notch2nl genannt, existieren ausschließlich in menschlichen Zellen. Haussler und Vanderhaeghen konnten nun erstmals zeigen, in welcher Weise die Gruppe von Erbanlagen Einfluss auf die Entwicklung des Gehirns nehmen und somit die Grundlage für ein so großes Gehirn schaffen, wie es nur dem Mensch eigen ist.

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Dafür untersuchte Haussler die Gene auch in menschlichen Minihirnen, welche sich aus Stammzellen züchten lassen. Solche Minibrains erlauben Einblicke in die tatsächliche Funktion von Erbanlagen: Man kann im Labor praktisch zuschauen, wie einzelne Gene ihre Wirkung entfalten. Die sogenannten Organoide, wie der allgemeine Fachbegriff lautet, lassen sich auch als Modelle für eine Vielzahl von anderen Organen entwickeln. Sie gelten jedoch insbesondere in der Neurobiologie als methodische Revolution. Zum Beispiel, um Gene oder Gengruppen wie jene von Notch2nl zu untersuchen.

Die besondere Rolle der Notch2nl-Gene hatte sich schon in früheren Studien abgezeichnet. So berichteten Wieland Huttner und sein Team am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik bereits im März dieses Jahres, dass eines der jetzt untersuchten menschlichen Gene in der Lage ist, das Hirnwachstum in Mäusen deutlich zu verstärken. Haussler und Vanderhaeghen haben diese Erkenntnisse nun bestätigt und die Mechanismen beleuchtet, die erklären, wie diese Gene überhaupt entstanden sind.

Sie kommen weder in Makaken noch Orang-Utans vor und sind bei Gorillas und Schimpansen nur in verkürzter, inaktiver Form zu finden. Die Forscher vermuten, dass ein Reparaturprozess im Erbgut vor drei bis vier Millionen Jahren zu einer neuen, aktiven Version des Gens führte - genau zu jener Zeit, zu der das Gehirn menschlicher Vorfahren zu expandieren begann. Die Wissenschaftler konnten außerdem zeigen, dass die Gruppe von Genen bislang falsch im Genom verortet worden war. Tatsächlich liegt sie in einer Region, die mit einer Reihe von Fehlbildungen des Gehirns in Zusammenhang steht.

Für die Autoren der neuen Studien ist deshalb klar, dass sie einen, vielleicht sogar den Motor der menschlichen Intelligenz gefunden haben. Doch das sehen nicht alle Fachleute so. "Keine der bisher erschienenen drei Studien hat die Expansion direkt gezeigt", sagt Huttner, der selbst Verfasser einer der Studien war. Der Neuroforscher bezweifelt auch aus anderen Gründen, dass Notch2nl bereits die ganze Geschichte der Hirnexpansion erzählt. "Wir haben vor drei Jahren in Science ein Gen beschrieben, das womöglich spannender ist und vielleicht sogar bedeutender", sagt der Neurowissenschaftler.

Gemeinsam mit Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig konnte sein Team die Funktion eines Gens mit dem unaussprechlichen Namen ARHGAP11B in Vorläufern von Nervenzellen aufklären. Auf Mäuse übertragen zeigt die Erbanlage nicht nur, dass sie die Bildung und Erneuerung neuronaler Stammzellen vorantreibt. Sie leitet auch die Faltung der Großhirnrinde ein und damit einen weiteren zentralen Prozess der Vergrößerung des menschlichen Gehirns, der in Mäusen normalerweise nicht stattfindet.

Es ist also nicht ganz so einfach, wie es die zwei aktuellen Studien auf den ersten Blick erscheinen lassen. Wichtig wird sein, die erblichen Besonderheiten des Menschen im Zusammenspiel zu betrachten. Minibrains, wie sie auch Haussler verwendete, könnten dafür entscheidend sein. "Die Organoide bieten großartige Möglichkeiten", sagt Huttner. So lassen sich mithilfe der modernen Genschere Crispr-Cas zahlreiche Gene ausschalten, einfügen oder direkt verändern. Fest steht allerdings auch, dass die enorme Größe des menschlichen Gehirns zwar ein entscheidendes Fundament für seine Intelligenz darstellt. Die drei jüngsten Studien liefern deshalb wichtige Einblicke in die Evolution dieser zentralen Eigenschaft. Klar ist jedoch auch, dass Größe allein nicht alles bedeutet, selbst in Bezug auf das menschliche Hirn.

Minigehirne aus menschlichen Stammzellen

"Die Größe setzt einen Rahmen", erklärt Huttner. So gibt es genetische Defekte, die zu einer starken Verkleinerung von Schädel und Gehirn führen. Der Denkapparat ist dann ungefähr so groß wie der eines Schimpansen, die Betreffenden haben eingeschränkte geistige Fähigkeiten. Dennoch: "Obwohl sie nur ein Gehirn von der Größe eines Schimpansenhirns haben, sind diese Menschen deutlich intelligenter als die Affen", sagt Huttner.

Einblicke in weitere entscheidende Faktoren der menschlichen Hirnentwicklung könnten Studien zum Gehirn von Neandertalern bieten. In Leipzig arbeitet ein Team des Paläogenetikers Pääbo derzeit an einer Art Auferstehung des Denkapparates dieser ausgestorbenen Homo-Spezies, die bereits ein genauso großes Hirn besaß wie der Mensch. Die Gruppe um Gray Camp züchtet dazu wiederum Minigehirne aus menschlichen Stammzellen. In diesen Zellen werden jedoch drei Gene so verändert, dass sie den Erbgutinformationen der ausgestorbenen Neandertaler entsprechen.

Dass eine solche Neandertalisierung von zeitgenössischen Zellen möglich ist, baut auf Pääbos frühere Arbeiten auf. Dem Schweden war es gelungen, aus den fossilen Überresten der vor rund 40 000 Jahren ausgestorbenen Neandertaler eine grobe Erbgutsequenz zu ermitteln. Damit ist eine Grundlage dafür geschaffen, zahlreiche genetische und letztlich auch physiologische Unterschiede zwischen den Spezies der Gattung Homo zu ermitteln. Im Grunde erlauben es die veränderten Minihirne, der Evolution live zuzusehen.

Wie der britische Guardian berichtete, wollen Pääbo und Camp die neandertalisierten Organoide über neun Monate hinweg im Labor wachsen lassen. Was etwas gruselig klingen mag, immerhin wächst im gleichen Zeitraum ein vollständiger Mensch im Mutterleib heran. Aber die Minihirne werden in dieser langen Zeit kaum größer als sechs Millimeter, weil ihnen das natürliche Versorgungssystem durch Blutgefäße fehlt. Genau genommen handelt es sich um schwimmende kleine Gewebehäufchen. Dennoch spiegeln sie einige der wichtigsten Entwicklungsschritte in der frühen Hirnentwicklung - und können somit Hinweise darauf geben, ob die untersuchten Gene einen Unterschied zwischen Mensch und Neandertaler ausmachten. Zum Beispiel, in dem sich die Stammzellen schneller oder langsamer zu Neuronen entwickeln oder sich anders organisieren.

Von einem begehbaren Neandertaler-Gehirn ist man damit natürlich noch weit entfernt. Aber bis dahin lohnt gewiss ein Gang durch Charly Körbels Denkapparat. Nicht zuerst, weil er ein Ausnahmefußballer ist - sondern weil das Gehirn des Menschen eine so große Ausnahme bleibt.

© SZ vom 01.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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