Doch zum Glück ist Picards Geschichte hier noch nicht zu Ende. Rosalind Picard macht schnell Karriere am MIT. Sie wird Professorin und berühmt für ihre Forschungen rund um anziehbare Computer. Doch anders als viele ihrer Kollegen hat sie das Zuhören nie verlernt. Auch deshalb wagt es wohl einer ihrer Probanden, ein Autist, ihr eines Tages die Wahrheit zu sagen: dass sie nämlich auf dem Holzweg sei. "Ich habe kein Problem damit, Emotionen zu verstehen", sagte er, "aber ihr versteht meine Gefühle nicht."
Spätestens an diesem Punkt wird Picard klar, dass Algorithmen, die Gesichtsausdrücke lesen, zumindest Autisten nicht weiterhelfen. "Die Betroffenen wirken oft äußerlich sehr ruhig, sind aber innerlich aufgewühlt", sagt sie. Selbst für das engste Umfeld bleibt ihr Gesichtsausdruck rätselhaft. Picard überlegt daher, wie sie die innere Unruhe bei Autisten messen kann, sie findet heraus, dass Stress direkt mit dem Schweiß am Handgelenk korreliert. Die Haut wird feucht - oft, ohne dass es die Betroffenen bemerken. Sie entwickelt gerade Mess-Armbänder, die ähnlich wie Lügendetektoren funktionieren, als kurz vor Weihnachten 2007 wiederum ein Student bei ihr anklopft. "Können Sie mir helfen? Ich würde gern wissen, wann mein Bruder gestresst ist."
Die Forscherin erschrickt, als sie die Daten sieht: "Das Kind hatte so einen Stress, wie ich ihn noch nie gesehen hatte."
Rosalind Picard interessiert sich auch für den Bruder dieses Studenten, "erzähl mir mehr von ihm", und gibt dem Studenten über die Weihnachtsferien Messgeräte mit - gleich zwei Stück, für den Fall, das eines ausfällt. Als der junge Mann im Januar zurück ins Labor kommt, staunt sie über die gemessenen Werte. Der Student hatte sie falsch verstanden: anstatt nur eines Armbands hatte er an beiden Armen seines Bruders Messgeräte angebracht. Und während die Werte an einem Handgelenk gleichmäßig aussehen, erschrickt Picard angesichts der Daten vom anderen Handgelenk. "Das Kind hatte so einen Stress, wie ich ihn noch nie gesehen hatte." Wie kann es sein, dass der Stress die elektrodermale Aktivität nur an einem Handgelenk verändert? Picard steht vor einem Rätsel. Sie sieht sich die Werte genauer an und fragt schließlich ihren Studenten: Was war am Sonntag um 14 Uhr? Der hat Tagebuch geführt und sagt: "Kurz danach hatte mein Bruder einen epileptischen Anfall."
Epilepsie? Picard beginnt, neurowissenschaftliche Artikel zu lesen. Sie lernt, dass die elektrodermale Aktivität auch mit der Aktivität im autonomen Nervensystem korreliert - jenen Nervenbahnen also, die sich nicht bewusst steuern lassen, aber für viele Körperfunktionen wichtig sind. Aber was hat dieser Ausschlag an einem Handgelenk zu bedeuten? Dazu findet sie nichts in der Literatur. Schließlich fragt sie ihre Praktikantin, die zufällig die Tochter eines führenden Epilepsieforschers am Bostoner Kinderkrankenhaus ist. Ob man vielleicht mal miteinander reden könne? Der Arzt stimmt einem Treffen sofort zu. "Ich war furchtbar aufgeregt", gesteht Picard. Wird der Arzt sie ernst nehmen? Wird er offen sein für Technologie? Werden sie überhaupt die gleiche Sprache sprechen?
Die gleiche Sprache? Für Tobias Loddenkemper ist das eine seltsame Frage. Natürlich nicht. "Wir beide sind hoch spezialisiert", sagt der Direktor der Abteilung für klinische Epilepsie-Forschung des Boston Children's Hospital. Aber aus seiner Sicht war es ein Glücksfall, dass er mit Picard zusammengefunden hat. "Ich wünschte, wir hätten uns schon früher getroffen", sagt er. Für ihn liefert die Informatikerin Anfang 2009 ein wichtiges Puzzleteil für seine Forschung. "Wir kannten dieses Signal, wir wussten, dass diese Veränderung im autonomen Nervensystem ein Sudep-Marker ist." Sudep steht für "sudden death in epilepsy", den plötzlichen Tod nach einem epileptischen Anfall. Dieser Tod war für die Forscher bis dahin ein Rätsel. Wann genau trat er auf? Und wieso? Diese Veränderungen im autonomen Nervensystem ließen sich bis dahin nur aufwendig in der Klinik messen.
Aus Erfahrung weiß der Arzt, dass die Anwesenheit anderer Menschen bei einem Krampfanfall den Tod verhindert
Schon lange hatte Loddenkemper vermutet, dass sich das Signal auch mit dem EEG nachweisen lassen müsse, einer Methode, die die elektrische Aktivität des Gehirns misst. Doch erst im Jahr 2010 folgte der Beweis. Damals zeigte der Neurologe Samden Lhatoo vom University Hospital in Cleveland anhand der Daten aus dem Krankenhaus, dass manche auffällig flache EEG-Signale kurz vor einem Krampfanfall offenbar auch einen plötzlichen Tod vorhersagen. Weitere Experimente ergaben: Jener Ausschlag in der elektrodermalen Hautreaktion, den Picard mit ihrem Armband messen kann, korreliert stark mit dem flachen EEG-Signal, das Lhatoo beschrieben hatte. "Es ist meine größte Hoffnung, dass der Sensor Anfälle detektieren und sagen kann, wie hoch das Sterberisiko ist" sagt Loddenkemper.
Das Armband, das Picard entwickelt hat.
(Foto: REUTERS)