Neuroinformatik:Alarm am Handgelenk

Lesezeit: 8 min

Rosalind Picard, a professor who straps stress monitors onto the wrists of visitors to her office, at the Massachusetts Institute of Technology campus in Cambridge, Mass.

Die MIT-Professorin Rosalind Picard hat das Zuhören bis heute nicht verlernt.

(Foto: Charlie Mahoney/The New York Times/Redux/Laif)

Eigentlich wollte die Ingenieurin Rosalind Picard nur ein Armband entwickeln, das den Stress von Autisten misst. Dann stellte sich heraus, dass es womöglich Leben rettet.

Von Eva Wolfangel

Rosalind Picard konnte nicht wissen, dass solche Geschichten ihr weiteres Leben prägen würden. Es war ein Tag im Juni 1999, die Elektroingenieurin grübelt gerade darüber, welchen Namen das neue, von ihr mit aufgebaute Forschungsfeld bekommen könnte. Später sollte es schließlich Wearable Computers heißen, anziehbare Computer. Da klopft ein Student an die Tür ihres Büros am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, USA. Er fragt schüchtern: "Können Sie meinem Bruder helfen? Er kann Emotionen nicht verstehen, er ist Autist."

Picard hat sich bereits einige Jahre lang damit beschäftigt, wie Computer die Gefühle von Menschen erkennen können. Vielversprechend erscheint ihr damals der Weg über den Gesichtsausdruck: Anhand von Fotos lernen ihre Algorithmen, ob ein Mensch gerade glücklich oder traurig ist, wütend oder enttäuscht.

Sie freut sich über den jungen Mann und bittet ihn herein. Ein guter Anwendungsfall für ihre Forschung! Autisten wie der Bruder ihres Studenten könnten davon profitieren, wenn Computer die Emotionen von Menschen entschlüsseln. Picard packt stets ein ihr eigener Feuereifer, wenn sie das Gefühl hat, etwas Gutes zu tun - so auch in diesem Fall: Sie verstärkt ihre Forschung und stattet den Bruder ihres Studenten und zahlreiche weitere Probanden mit Mini-Computer und einer App aus. Die soll ihnen anhand des Gesichtsausdrucks verraten, was ihr Gegenüber gerade empfindet.

18 Jahre später steht Picard in einem Saal in Heidelberg vor Tausenden Teilnehmern einer Informatikkonferenz und berichtet von diesem Zusammentreffen, dem Beginn ihrer Karriere. Sie weiß, wie sie ihr Publikum in Bann zieht, sie macht kunstvolle Pausen. "Wir hatten damals eine Genauigkeit von 70 Prozent", ruft sie in den Saal, betont das "damals" und grinst über das ganze Gesicht: 70 Prozent der Emotionen also hatte ihr damaliges System richtig gedeutet. "Heute aber", fährt sie fort, "heute haben wir 90 Prozent Genauigkeit, wir haben inzwischen mehr als vier Millionen Probanden aus 75 Ländern vermessen". Längst prangt das Logo eines Unternehmens auf ihren Folien: Affectiva. Picard hat die Firma mitgegründet. Sie besitzt den größten Emotionsdaten-Speicher der Welt. Und das ist erst der Anfang der Geschichte.

In einer Konferenzpause wird die blonde Frau umringt, vor allem von jungen Forscherinnen, alle haben Fragen an sie, jede träumt davon, eines Tages Großes zu vollbringen, ein wenig wie ihr Vorbild Picard. Die 55-Jährige bewegt sich in einer Traube von Menschen zum Kaffeetresen, ganz langsam, um ja keine Frage zu verpassen. Picard ist es ein Anliegen, dass Jüngere aus ihrer Erfahrung lernen.

Nur wem es gelingt, Rosalind Picard in der Ruhe eines Nebenraumes zu treffen, erfährt von ihren Zweifeln. "Das mit den Emotionen per Gesichtserkennung ist nicht so einfach", sagt sie und reicht ihr Handy herüber: "Hier, probieren Sie." Und in der Tat: ein falsches Lächeln interpretiert die App als echte Freude, und wer konzentriert dreinblickt, gilt schnell als unzufrieden. Die Algorithmen fallen auf ähnliche Muster herein wie Menschen - zusätzlich fehlt ihnen aber der Kontext und die Intuition. Daher missinterpretieren sie mehr als die meisten Menschen. "Eine Stirnfalte kann Konzentration bedeuten, aber auch Wut", sagt die Informatikerin, "oder sie kann auch einfach ein Zeichen des Alterns sein."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema