Es sollte für die Psychiatrie so etwas werden wie die Mondlandung für die Raumfahrt. Doch jetzt kreist das Raumschiff doch bloß wieder um die Erde, und alle streiten, ob das Projekt die Mühe wert war. Am Wochenende jedenfalls stellte die American Psychiatric Association (APA) bei ihrem Jahrestreffen in San Francisco endlich die neue, fünfte Ausgabe ihres Diagnosekatalogs ("Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders") vor: Das DSM-5 sei das "Ergebnis einer mehr als zehnjährigen Reise, bei der die Kriterien für die Diagnose und Klassifikation psychischer Störungen neu aufgestellt wurden", erklärte etwas pathetisch David Kupfer von der University of Pittsburgh, der das Revisionsprojekt geleitet hatte.
An die 500 Wissenschaftler hatten seit 1999 in Arbeitsgruppen oder als Berater an dem Werk mitgearbeitet, mehr als 13.000 Kommentare wurden verarbeitet, Feldstudien erstellt, um den Katalog auf den Stand der Wissenschaft zu bringen und - so die große Hoffnung - die Diagnosekriterien mithilfe der biologischen Wissenschaften endlich auf eine objektive Basis zu stellen.
Es war weit mehr als ein akademisches Unterfangen. Das DSM-Regelwerk, das seit 1952 von der APA herausgegeben wird, beeinflusst mittlerweile weltweit, wer als psychisch krank gilt. Die Definitionen in diesem Buch entscheiden weitgehend, ob die Krankenkasse die Kosten für eine Therapie übernimmt, ob ein Totschläger vor Gericht für schuldunfähig erklärt werden kann, wohin die Forschungs- und Marketing-Milliarden der Pharmaindustrie fließen.
In Deutschland verschlüsseln die Ärzte ihre Diagnosen zwar nach dem konkurrierenden ICD-10-Regelwerk der Weltgesundheitsorganisation WHO ("International Classification of Diseases"), aber auch dieses gilt als stark vom DSM beeinflusst. So wird es vermutlich auch bei der nächsten Ausgabe der ICD sein, die im kommenden Jahr in ihrer elften Version erscheinen soll. Und in der Forschung ist ohnehin fast ausschließlich der DSM in Gebrauch. Verständlich also, dass Ärzte und Wissenschaftler mit Ungeduld auf die neueste Ausgabe des Katalogs gewartet haben: Er gilt als die Bibel der Psychiater.
Knapp 20 eng bedruckte DIN-A4-Seiten umfassen nun die Hauptänderungen im neuen DSM-5, die am Wochenende von der APA publiziert wurden, wobei es viel um Formulierungen, Umgruppierungen und Erläuterungen geht. Bei den Kerndiagnosen haben sich einige der Gerüchte bestätigt, die seit Monaten diskutiert wurden: Das sogenannte Asperger-Syndrom - eine Entwicklungsstörung, die sich vor allem durch eine stark gestörte soziale Kommunikation auszeichnet - ist in einer sogenannten Autismusspektrumsstörung aufgegangen. Autismus und Asperger gelten damit nur noch als verschieden starke Ausprägungen des gleichen Grundleidens. Extreme und keinem Anlass entsprechende Wutausbrüche können jetzt bei Kindern ab sechs Jahren als eigenständige psychische Störung diagnostiziert werden.
Zur Diagnose der verbreiteten Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ADHS genügt es in Zukunft, dass die Symptome bis zum 12. Lebensjahr das erste Mal auftreten; im DSM-IV musste dies bereits bis zum siebten Geburtstag geschehen sein. Betont wird nun auch, dass ADHS bis ins Erwachsenenalter anhalten kann.
Weitere Änderungen: Nach bisheriger Praxis durfte ein Arzt in den ersten zwei Monaten nach einem Trauerfall keine Depression diagnostizieren; diese Ausnahme ist jetzt abgeschafft. Bei Suchterkrankungen wird nicht mehr zwischen Missbrauch und Abhängigkeit unterschieden, werden die Diagnoseschwellen gesenkt. Fallen die im Alter üblichen Gedächtnis- und Denkstörungen etwas stärker aus, gelten sie künftig als "minore neurokognitive Störung".
Darüber hinaus wurden einige neue Diagnosen eingeführt: "Binge Eating "- periodische Fressanfälle ohne folgendes Erbrechen - und starke prämenstruelle Beschwerden gelten jetzt offiziell als krankhaft; ebenso stehen jetzt das Messie-Syndrom, die Spielsucht und exzessives Sich-Kratzen im Katalog.
Seitdem vor etwa zwei Jahren die ersten Entwürfe dieser Änderungen kursierten, tobt ein heftiger Streit, ob hier mithilfe des Diagnosekatalogs die Gesellschaft weiter psychiatrisiert und medikalisiert werden soll. Als "traurigen Tag für die Psychiatrie" bezeichnete ausgerechnet Allen Frances das Erscheinen von DSM-5. Der emeritierte Professor der Duke University verantwortete einst DSM-IV, führt jetzt aber einen Kreuzzug gegen das Nachfolgewerk. Seiner Ansicht nach wird es zu Millionen falschen Krankheitsdiagnosen führen.
Auch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) warnt vor einer "Ausweitung von Krankheitsentitäten und damit Versorgungsansprüchen" im DSM-5. Es bestehe die "Gefahr der Pathologisierung von alltäglichen Leidenszuständen sowie von natürlichen Anpassungs- und Alterungsprozessen". In der guten Absicht, niemanden zu übersehen, so DGPPN-Präsident Wolfgang Maier von der Universität Bonn, entstehe die Gefahr einer Überdiagnostik, die zulasten der wirklich Kranken gehe.
Allerdings kann man den DSM-5-Autoren kaum Leichtfertigkeit unterstellen. Manche Entscheidung scheint eher zurückhaltend. So wurde etwa die Internet-Abhängigkeit in einen Anhang des Katalogs geschoben. Gleiches gilt für den Vorschlag, Risikozustände für Schizophrenien, wie sie sich bereits in frühen Jahren zeigen, als Diagnose aufzunehmen. Zu groß war wohl die Angst, Kinder und Jugendliche fahrlässig zu stigmatisieren.
Die Praxis wird zeigen, ob sich die Befürchtungen der Kritiker oder die Hoffnungen der Befürworter erfüllen. Über jede Änderung im Katalog ließe sich endlos diskutieren. Dabei könnte jedoch die fortdauernde Schwäche der gesamten bisherigen psychiatrischen Diagnostik aus dem Blick geraten. Darauf wies Thomas Insel, Direktor des National Institute of Mental Health (NIMH) in den USA, Ende April in seinem Blog hin: "Der DSM wird ja häufig als Bibel für die Disziplin beschrieben", schrieb der Psychiater, "tatsächlich ist er im besten Fall ein Lexikon."
Insel spielte darauf an, dass auch der neue DSM, entgegen den ursprünglichen Absichten, meist bei rein symptomatischen Beschreibungen der psychischen Leiden bleibt. Diagnostiziert wird nach Symptom-Checklisten - ohne Fragen nach den Ursachen. "Das würde für den Rest der Medizin bedeuten, dass man diagnostische Systeme nach der Art der Brustschmerzen oder der Qualität des Fiebers erstellt", kommentierte Insel.
Forscher des NIMH arbeiten bereits seit einigen Jahren an der Zukunft der psychiatrischen Diagnostik, wo die seelischen Krankheiten nach ihren biologischen, genetischen und neuronalen Ursachen geordnet werden sollen; wo berücksichtigt wird, dass viele psychische Störungen sich in der Realität überlappen, dass vermeintlich verschiedene Diagnosen gemeinsam vererbt werden und gleiche Symptome unterschiedliche Ursachen haben können. Sollten diese Forscher eines Tages Erfolg haben, dann müsste die Bibel der Psychiatrie ganz neu geschrieben werden.