Neue Medikamente gegen Multiple Sklerose:Pharmafirmen verzögern Markteinführung

Nie wieder Spritzen - so die Hoffnung vieler MS-Patienten auf zwei neue Medikamente in Tablettenform. Aber die Firmen halten die Präparate zurück. Sie warten auf einen stärkeren Schutz vor Nachahmerpräparaten.

Von Christina Berndt

Wie im Kino warb der Pharmakonzern für sein neues Medikament: "Coming soon", lasen Ärzte in US-Fachzeitschriften. Sie stimmten ihre Patienten darauf ein, dass auch hierzulande bald das neue Mittel DMF (Handelsname: Tecfidera) gegen die Multiple Sklerose (MS) zur Verfügung stehen würde - das erste, das nicht gespritzt werden muss. Seit Langem wünschen sich Betroffene Tabletten gegen die schwere Nervenkrankheit, die manche Patienten im Laufe der Jahre in den Rollstuhl zwingt.

Doch mit dem neuen Medikament wird es erst mal nichts. Die Markteinführung in Europa verzögere sich etwa um ein halbes Jahr auf Ende 2013, teilte der Hersteller Biogen Idec vor Kurzem lapidar mit. Dabei stünde einer baldigen Markteinführung nichts entgegen. Der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittelagentur hat bereits ein positives Votum für die Zulassung erteilt. Auch hat das Mittel Patentschutz bis 2028 - und der sei "stark", so der Hersteller.

"Es geht ums Geld"

Die Firma will aber mehr. "Wir möchten mit dem größtmöglichen Schutz in den Markt gehen", sagt eine Sprecherin. Das sei die Grundlage dafür, dass Biogen Idec auch künftig innovative Therapien für Patienten mit schweren Erkrankungen entwickeln könne. Derzeit hapert es noch am sogenannten Unterlagenschutz. Dieser "kleine Bruder des Patentrechts" gilt zwar höchstens zehn Jahre. Vorteil für die Firma aber ist: Wenn andere Unternehmen gegen den Unterlagenschutz verstoßen, wird die Arzneimittelbehörde aktiv. "Beim Patentschutz sind wir dagegen selbst in der Verantwortung", so die Biogen-Idec-Sprecherin.

Patienten haben das Nachsehen. "Die Markteinführung ist von vielen herbeigesehnt worden", erzählt der MS-Spezialist Reinhard Hohlfeld von der Uni München. "Unerfreulich und überraschend" sei die Verschiebung. "Es geht mal wieder ums Geld", sagt Wolfgang Becker-Brüser vom Pharma-kritischen Arznei-Telegramm. Das Wohl der Patienten sei gemeinhin sekundär.

Ähnlich liegt der Fall bei einem zweiten, ebenfalls als Tablette wirksamen MS-Medikament namens Teriflunomid (Handelsname: Aubagio) des Herstellers Sanofi. Der Konzern hatte schon im März ein positives CHMP-Votum. Auch hier wartete die Firma jedoch, weil sie einen besseren Unterlagenschutz erstreiten wollte. Dies sei nun gelungen, teilte eine Sprecherin mit. Von Oktober an werde das Mittel voraussichtlich zu erhalten sein.

Erleichterung für neue MS-Patienten

Von den Verzögerungen betroffen sind vor allem Menschen mit einer frischen MS-Diagnose. Diese trifft Patienten ohnehin wie ein Donnerschlag. Da hilft es, wenn sie sich wenigstens nicht täglich Spritzen ins Unterhautfett jagen müssen. Patienten, die bereits eine MS-Therapie erhalten und gut darauf reagieren, sollen aber unbedingt bei ihren Spritzen bleiben, rät die Deutsche Multiple-Sklerose-Gesellschaft. Niemand wisse, wie sich die heimtückische Krankheit entwickelt, wenn die Behandlung plötzlich umgestellt wird.

"Die Sache ist schon paradox", sagt der MS-Spezialist Ralf Gold von der Universität Bochum. "DMF als Wirkstoff gegen MS wurde in Bochum erfunden, aber bisher haben nur die Amerikaner etwas davon." Golds Vorgänger hatte zufällig festgestellt, dass sich bei MS-Patienten mit Schuppenflechte beide Krankheitsbilder besserten, wenn sie ein DMF-haltiges Präparat gegen ihre Schuppenflechte bekamen.

Es ist nicht das erste Mal, dass Biogen Idec Entscheidungen fällt, die nicht im Sinne der Patienten sind. "DMF befand sich als Psoriasis-Medikament bereits in der klinischen Prüfung", sagt Becker-Brüser. Allein sei die Substanz erheblich verträglicher als die DMF-haltige Mischung. Doch die Firma entschied sich, DMF nur zum MS-Medikament zu machen. Arzneien gegen diese Krankheit versprechen satte Gewinne. Die Therapie kostet schnell 2000 Euro pro Monat - gemeinhin ein Patientenleben lang.

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