Netzportal für Kranke:"Hier erhält der Schmerz ein Gesicht"

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Schmerzen, Diabetes, chronische Darmerkrankungen: Wer im Internet nach Erfahrungen anderer Patienten sucht, geht leicht unter im Wust der ungefilterten Informationen. Ein Universitätsprojekt will ein seriöses Portal für Betroffene bieten.

Von Christina Berndt

Endlich sollen einmal nicht die Ärzte reden. In einem Universitätsprojekt sind es die Patienten, die erzählen. Als Experten in eigener Sache berichten sie im Internet, welche Erfahrungen sie mit ihrer chronischen Krankheit gemacht haben, wie ihre Lebensweise ihr Wohlbefinden beeinflusst und wie sich ihr Lebensumfeld seit der Diagnose verändert hat. Bislang ging es auf der Webseite um chronische Schmerzen und Typ-2-Diabetes, seit Freitag erzählen auf www.krankheitserfahrungen.de Patienten auch über Epilepsie und chronisch-entzündliche Darmerkrankungen. Ab dem kommenden Jahr soll die Website auch Darm-, Brust- und Prostatakrebs thematisieren.

Der Unterschied zu Internetforen, in denen ungefiltert mitunter großer Unsinn verbreitet wird: Das Projekt wird wissenschaftlich vom Göttinger Institut für Allgemeinmedizin und vom Freiburger Institut für Psychologie begleitet. Die beteiligten Wissenschaftler haben die Patienten so ausgewählt, dass sie möglichst "die gesamte Bandbreite an verschiedenen Personengruppen und Erfahrungen ausschöpfen", wie Janka Koschack aus Göttingen sagt.

In Interviews mit den Wissenschaftlern geben die Patienten auch Auskunft über ihre Erfahrungen mit Ärzten und Therapien. Positive Erfahrungen werden ebenso präsentiert wie negative. "Schließlich prägen auch bittere Erlebnisse das Leben mit der Krankheit", sagt Wolfgang Himmel aus Göttingen.

Nach ersten Analysen kommt der Webauftritt bei den Patienten gut an. "Erstmals kommen in größerem Umfang Betroffene zu Wort. Hier erhält der Schmerz ein Gesicht, eine Sprache", lobt ein Nutzer. Eine andere Nutzerin schreibt: "Die Website ist ein Ort, an dem man jenseits medizinischer Hilfe Unterstützung und ein Gefühl des Nicht-Alleinseins bekommt. Eine Art virtuelle Selbsthilfegruppe. Kein Ratgeber, sondern gelebte Erfahrung."

Vorbild des Projekts ist die britische Website Healthtalkonline, die von der Universität Oxford begleitet wird. Dort gibt es inzwischen Erfahrungen zu mehr als 60 Krankheiten. Die Website gilt in Großbritannien als eines der wichtigsten Online-Angebote im Gesundheitsbereich. Ein ähnliches Ziel verfolgen auch die Deutschen.

Ihr Web-Auftritt ist komplett werbefrei. Einflussnahme etwa durch Pharmafirmen soll es nicht geben. Eine ungewollte Beeinflussung gibt es aber wohl doch: Ganz frei von der Leber weg sprächen die Patienten nicht, meint der Medizinwissenschaftler Peter Sawicki von der Universität Köln: "Man merkt, dass sie sich anders ausdrücken als gewohnt, weil sie mit Ärzten reden."

Sawicki empfiehlt, die Patienten in künftigen Interviews erst einmal ganz frei sprechen zu lassen - allein auf die Frage hin, was sie anderen Kranken sagen würden. Gleichwohl hält Sawicki das Projekt aus Göttingen und Freiburg für wegweisend. "Patienten wünschen sich, wahre Geschichten anderer Patienten unverfälscht zu hören", sagt er.

Aber können sich die Nutzer der Website am Ende wirklich besser durch das Gesundheitssystem lavieren? Oder schüren die Berichte womöglich nur neue Sorgen? Mit Blick auf solche Fragen wollen die Göttinger und Freiburger Wissenschaftler ihr Projekt noch evaluierten. Es sollen alle positiven und negativen Effekte der Website erfasst werden, betont Himmel.

Die Erfahrungen aus Großbritannien aber lassen Gutes ahnen: In einer Untersuchung von Sue Ziebland von der Universität Oxford gab jeder zweite Befragte an, das Internet habe ihm geholfen, seinen Zustand besser zu verstehen; jeder sechste sagte, es habe seine Therapieentscheidung beeinflusst. Theoretisch bestehe die Gefahr, dass Menschen durch solche Internetauftritte beunruhigt würden, so Ziebland. "Doch die meisten Nutzer berichten, dass sie danach eher beruhigt waren." Es mache Hoffnung, dass andere Kranke es auch irgendwie geschafft haben.

© SZ vom 13.04.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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