Anthropologie:Sensibel wie ein Neandertaler

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Empfindlicher Urmensch? In dieser Nachbildung gehen Neandertaler doch recht furchtlos auf Bärenjagd. (Foto: imago stock&people/imago/StockTrek Images)

Eine genetische Mutation machte die Frühform des Menschen womöglich empfindlicher für Schmerzen. Bis heute tragen manche Leute die Erbgut-Variante in sich.

Von Werner Bartens

Schwer zu sagen, was so ein Neandertaler tatsächlich gespürt hat, wenn er verletzt war oder krank wurde. Ob er weitgehend schmerzfrei war oder vielleicht besonders sensibel. Womöglich haben diese entfernten Verwandten des modernen Menschen, die vor 500 000 Jahren durch die Steppen streifte, auch nicht viel Aufhebens um ihre Empfindungen gemacht, sondern waren mit der Nahrungssuche sowie der Abwehr von Feinden ausgelastet. Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig haben nun allerdings Hinweise dafür gefunden, dass die Neandertaler Schmerzreize womöglich intensiver wahrgenommen haben als die meisten modernen Menschen. Die Ergebnisse wurden gerade im Fachmagazin Current Biology veröffentlicht.

Das Team um Hugo Zeberg und Svante Pääbo hat einen experimentellen Ansatz gewählt, der reizvolle Spekulationen erlaubt, aber keine definitiven Aussagen über das Schmerzempfinden in der Frühzeit. "Ob Neandertaler tatsächlich vermehrt Schmerzen gespürt haben, ist schwer zu sagen", schränkt Pääbo ein. "Schließlich wird die Schmerzwahrnehmung auch in Rückenmark und Gehirn moduliert."

Ist der Natrium-Kanal defekt, können Menschen gar keine Schmerzen empfinden

Das, was als Schmerz empfunden wird, ist eben nicht nur von der Intensität des peripheren Reizes abhängig, sondern während der Signalweiterleitung an das Gehirn gibt es verstärkende und hemmende Faktoren, die darüber bestimmen, wie stark die Pein wahrgenommen wird. Wer in einen Nagel tritt, kann in einer besonders verletzlichen Situation laut aufheulen. Zu einem anderen Zeitpunkt spürt er den Schmerz hingegen vielleicht kaum.

Da das Neandertaler-Genom inzwischen gut bekannt ist, haben die Wissenschaftler die Erbanlagen für einen zellulären Natrium-Kanal sowie den Ionen-Kanal selbst genauer untersucht, der für den Beginn der Schmerzweiterleitung wichtig ist. Die genetische Variante der Frühmenschen unterscheidet sich von jener der meisten modernen Menschen.

In Versuchen im Labor zeigte sich, dass die elektrische Nervenerregung an Zellen, die Ionen-Kanäle wie jene der Neandertaler aufwiesen, leichter ausgelöst werden konnte. Die Schmerzschwelle lag niedriger; es waren geringere Reize nötig, um eine unangenehme Empfindung zu spüren. Theoretisch legt das eine intensivere Schmerzwahrnehmung nahe, allerdings ist das, was als Schmerz im Gehirn ankommt, eben nicht nur von einem Ionen-Kanal und der Reizleitung im Nervensystem abhängig. Wer gedrückter Stimmung ist oder sich einsam fühlt, nimmt Schmerzen ebenfalls stärker wahr.

Die Kinder sprangen von Hausdächern und spürten nicht, wenn ihre Knochen brachen

Um ihre Befunde zu untermauern, untersuchten die Wissenschaftler zusätzlich das Genom moderner Menschen. Sie fanden an Probanden aus Großbritannien, dass ein kleiner Teil der heutigen Zeitgenossen ebenfalls die Neandertaler-Variante im Erbgut trägt. Werden diese nach ihrem Schmerzempfinden befragt, geben sie ebenfalls eine höhere Intensität an, ihre Schmerzschwelle liegt niedriger.

Zur Erläuterung wählt Hugo Zeberg einen interessanten Vergleich, denn ein wichtiger Faktor für die Schmerzwahrnehmung ist das Alter. Je älter die Menschen sind, desto häufiger berichten sie von Schmerzen, wobei unklar bleibt, ob sie empfindlicher werden oder schlicht das Ausmaß körperlicher Pein steigt. "Mit der Neandertal-Variante für den Ionen-Kanal ist das Schmerzempfinden so, als ob man acht Jahre älter wäre", sagt Zeberg. "Diese Variante umfasst drei Veränderungen der Aminosäuren im Vergleich zu der verbreiteten modernen Form." Wenn nur eine Aminosäure ersetzt ist, beeinträchtigt das die Funktion des Ionen-Kanals nicht, sind hingegen alle drei verändert, führt das bei heutigen Menschen zu erhöhter Schmerzempfindlichkeit.

Vor Jahren hatten Forscher den seltenen Fall einer pakistanischen Familie beschrieben, die keinerlei Schmerzen empfinden konnte. Die Kinder sprangen von Hausdächern und spürten nicht, wenn ihre Knochen brachen. Als "Straßentheater" bezeichneten sie es, wenn sie sich zur Irritation der Schaulustigen Messer in Arme oder Beine stachen. Alt wurden sie nicht, denn Schmerz zu spüren ist auch ein Warnhinweis für Verletzungen und Gefahr. Der Grund für ihre Unempfindlichkeit lag ebenfalls im Erbgut. Sie wiesen eine Mutation im Gen für den gleichen Natrium-Kanal auf, der bei den Neandertalern verändert war. Im Fall der Familie aus Pakistan war er jedoch nicht überempfindlich, sondern defekt, sodass keinerlei Schmerzimpulse weitergeleitet wurden.

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