Mundhygiene:Am zahnseidenen Faden

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Verrenkungen vor dem Badezimmer-Spiegel, blutendes Zahnfleisch, vielleicht vollkommen überflüssig: Die wissenschaftlichen Beweise für den Nutzen von Zahnseide sind dünn.

Von Bernd Eberhart

Einmal im Jahr wird die zahnseidene Offensive gestartet. Nach dem Besuch in der Praxis klingen vielen Patienten die Worte des Zahnarztes in den Ohren nach: "Regelmäßig, am besten täglich. Mindestens aber jeden zweiten Tag." Und so werden die alten, noch üppigen Vorräte an Zahnseide aus dem Badezimmerschrank gekramt. Voller guter Vorsätze wickelt der frisch Motivierte dann den empfohlenen halben Meter Seide ab. Wilde Verrenkungen vor dem Badezimmerspiegel, schmerzhaftes Einschneiden der Zahnseide in die Zeigefinger, blutendes Zahnfleisch, all das nimmt er auf sich. Dient es doch der Zahngesundheit.

Aber ist dem wirklich so? Kann ein schmaler Faden wirklich nachhaltig vor Zahnfleischentzündung, Parodontitis und Karies bewahren? Tatsächlich gibt es kaum stichhaltige Vergleichsstudien, die eine Wirksamkeit der seidenen Zahnpflege belegen.

Zwar wird jeder Zahnarzt, jeder Zahnpfleger, Drogist oder Apotheker dem besorgten Patienten oder Kunden zur Zahnseide raten. Wird ihr Nutzen jedoch mit den klassischen wissenschaftlichen Methoden hinterfragt, fallen die Ergebnisse alles andere als eindeutig aus. Müssen - oder dürfen - wir uns also von einer noch nicht einmal lieb gewonnenen Tradition schon wieder verabschieden?

Die Theorie hinter der Zahnseide leuchtet durchaus ein. Als Ergänzung zur Zahnbürste soll sie all jene Flächen von eiweißhaltigen Zahnbelägen befreien, die für die dicken Borsten zu schmal oder zu versteckt sind; das sind immerhin gute 30 Prozent der Zahnoberfläche. Die hartnäckigen Beläge sind die Heimat schädlicher Bakterien - und so mitverantwortlich für Karies und Zahnfleischentzündungen. Allein durch Spülen mit Wasser oder mit einer Munddusche lässt sich diese sogenannte Plaque nicht entfernen. Auch antibakterielles Mundwasser kann den Belägen nichts anhaben.

Eine robustere Reinigungsmethode ist dazu vonnöten. Schon im Jahr 1815 hatte sich der amerikanische Zahnarzt Levi Spear Parmly daher die Zahnseide ausgedacht: Mit normalen Seidenfäden reinigte er die Zähne seiner Patienten und empfahl die Methode zur Nachahmung. Aus der Idee mit der Seide wurde im Laufe der Jahre ein eigenes Produkt entwickelt, gegen Ende des 19. Jahrhunderts ließ sich die Firma Johnson and Johnson die Zahnseide patentieren.

Es dauerte eine Weile, bis das Produkt auch diesseits des Atlantiks an Popularität gewann. Noch heute sind die Deutschen eher zögerlich, was die Zahnseide angeht: Nach einer im September 2012 veröffentlichten Studie der Universität Witten/Herdecke zu den Zahnputzgewohnheiten der Deutschen greifen nur elf Prozent der Bürger täglich zur Zahnseide; trotz der empfohlenen 180 Meter an verbrauchter Seide pro Mund und Jahr schafft es der Durchschnittsdeutsche gerade einmal auf eineinhalb Meter.

Wie steht es also um das deutsche Gebiss - tiefschwarze Löcher, ramponiertes Zahnfleisch, wackelnde Zähne? Die von der Bundeszahnärztekammer in Auftrag gegebene Mundgesundheitsstudie zeichnet ein anderes Bild: Den zahngesundheitlichen Vergleich zu den seidenaffineren US-Bürgern müssen die Deutschen nicht scheuen. Erwachsene Deutsche kommen in Hinblick auf Karies und Parodontalerkrankungen auf ähnlich gute Werte wie die US-Amerikaner; bei Kindern gibt es hierzulande sogar deutlich weniger Karieserfahrungen.

Keine eindeutigen Zusammenhänge bewiesen

Auch eine Vergleichsstudie der unabhängigen Cochrane Collaboration kann keine eindeutigen Zusammenhänge zwischen dem Gebrauch von Zahnseide und der Reduktion von Karies und Zahnfleischproblemen feststellen. Für ihre Arbeit sammelten und analysierten die Wissenschaftler alle relevanten Publikationen der letzten Jahrzehnte, die zum Thema Zahnseide aufzutreiben waren.

Unter der Vielzahl der Artikel fanden sich gerade einmal zwölf, die im Hinblick auf den Versuchsaufbau die scharfen Cochrane-Kriterien erfüllten. In der zusammenfassenden Studie wurden letztendlich die Ergebnisse von insgesamt 1083 Teilnehmern neu bewertet.

Das klare Fazit zum Seidengebrauch: Der wissenschaftlich eindeutige Beweis für den Nutzen bleibt bisher aus. Es gibt zwar Ergebnisse, die eine Reduzierung sowohl von Plaque als auch von Zahnfleischentzündungen aufzeigen. Doch diese sind sehr undeutlich. Von den zwölf ausgewählten Studien waren wiederum mindestens fünf von der Zahnpflegeindustrie bezuschusst - was der Glaubwürdigkeit der Ergebnisse nicht eben zuträglich ist. Und ein Zusammenhang zwischen dem Gebrauch von Zahnseide und dem Rückgang von Karies wurde laut der Cochrane-Studie bisher von keinem Wissenschaftler glaubhaft gezeigt.

Für Dietmar Oesterreich, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer, hat die Zahnseide dennoch einen festen Platz unter den täglichen Badezimmerritualen verdient. "Uns ist die Cochrane-Studie natürlich auch bekannt", sagt Oesterreich. "Sie zeigt auf, dass es zur Zahnseide zu wenig Evidenz aus randomisierten Studien in der wissenschaftlichen Literatur gibt." Das bedeute aber nicht, dass es keine Zusammenhänge zwischen Zahnseidegebrauch und besserer Zahngesundheit gibt; zahlreiche klinische und epidemiologische Studien würden diese belegen. Und Zahnärzte mit langjähriger Praxiserfahrung hätten den positiven Effekt von Zahnseide unmittelbar vor Augen.

"Direkte Beweise sind immer gut in Medizin und Wissenschaft", findet Oesterreich. Diese seien auch für die Patienten am überzeugendsten. Die Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Literatur müssten aber immer mit den eigenen Erfahrungen und dem individuellen Patientenfall verbunden werden. In diesem Fall sei es auch gar nicht so einfach, die notwendigen Studien durchzuführen. "So kann es durchaus ethische Bedenken geben: Schließlich müsste man einer Vergleichsgruppe verbieten, Zahnseide zu benutzen, und würde so deren gesundheitliche Risiken in Kauf nehmen."

Immerhin, keine Studie zeigt gesundheitliche Nachteile

Mit harten wissenschaftlichen Beweisen für den Nutzen von Zahnseide kann der mundhygienischen Motivation also bisher noch nicht auf die Sprünge geholfen werden. Doch nicht alles, was noch nicht wissenschaftlich belegt ist, ist zwangsläufig nicht wirksam. Und es gibt auch keine Studie, die einen negativen Effekt zeigen würde oder gar einen Schaden durch Zahnseide, vorausgesetzt sie wird einigermaßen sachgemäß angewandt. Man muss also der langjährigen Erfahrung der Zahnprofis vertrauen - und auch ohne ultimativen Beweis zur seidenen Zahnreinigung raten. Es gibt übrigens einen weiteren Effekt von Zahnseide: Neben den Zahnzwischenräumen poliert sie auch das gesundheitliche Gewissen auf. Garantiert.

© SZ vom 08.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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