Süddeutsche Zeitung

Multiple Sklerose:Kein Potenzmittel auf Rezept

Ein Urteil des Bundessozialgerichts zwingt MS-Kranke mit sexuellen Funktionsstörungen, Potenzmittel weiterhin selbst zu zahlen. Behindertenverbände beklagen, dass Geschlechtsverkehr in der Gesellschaft normal sei, "nur für Behinderte offenbar nicht".

Sarah Ehrmann

Enttäuscht haben Kranken- und Behindertenverbände auf die Nachricht reagiert, dass gesetzliche Krankenkassen die Kosten für potenzsteigernde Medikamente für Menschen mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen nicht übernehmen werden. Dies hatte das Bundessozialgericht am Dienstag bekräftigt. "Wir sind maßlos enttäuscht", sagt Ilja Seifert, Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbands in Deutschland. "Das Urteil zementiert einen Rückschritt und ist ein herber Rückschlag." Es zeige, dass Geschlechtsverkehr in der Gesellschaft normal sei, "nur für Behinderte offenbar nicht".

Das Bundessozialgericht in Kassel hatte den Revisionsantrag eines an Multipler Sklerose erkrankten Mannes abgelehnt, der das potenzsteigernde Medikament Cialis gekauft und seine Krankenkasse auf Kostenerstattung verklagt hatte. Er leide durch seine MS-Erkrankung an Erektionsstörungen, sagte er und verwies auf die UN-Behindertenrechtskonvention, die Menschen mit Behinderung eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zugesteht.

Sein Anwalt argumentierte, dass der 51-Jährige das Viagra-ähnliche Mittel benötige, um überhaupt Geschlechtsverkehr zu haben. Das Gericht urteilte jedoch, es sei kein Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention und keine Diskriminierung, wenn gesetzliche Versicherungen nicht zu einer Kostenübernahme verpflichtet sind.

Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft bedauert das Urteil: Vielfältige Einschränkungen seien belastend für Erkrankte - Geschlechtsverkehr könnte daher auch als beziehungsstabilisierendes Element gelten, sagt Bundesgeschäftsführerin Dorothea Pitschnau-Michel. Sie hält das Urteil für kaum anfechtbar: "Die UN-Behindertenrechtskonvention lässt den Spielraum, auf den sich das Gericht bezieht."

Seit 2004 sind Medikamente vom Leistungskatalog der Krankenkassen ausgeschlossen, "bei deren Anwendung eine Erhöhung der Lebensqualität im Vordergrund steht". Für Menschen mit Behinderung ist der Kauf von Cialis oder Viagra allerdings eine finanzielle Herausforderung: In Werkstätten liegt der Lohn bei 80 bis 150 Euro - acht Tabletten kosten hingegen mehr als 100 Euro. Möglicherweise könnten Sozialhilfeträger künftig diese Kosten übernehmen. Sie kommen in begründeten Ausnahmefällen schon jetzt für sexuelle Dienste für Menschen mit schwersten Behinderungen auf.

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SZ vom 08.03.2012/beu
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