Morde im Krankenhaus:Rettungsrambo im Rausch der Anerkennung

Der Pfleger Niels H. soll 30, vielleicht 200 Patienten in den Tod geschickt haben. Doch Mordlust war offenbar nicht sein Motiv. Ein Einblick in deutsche Krankenhäuser.

Von Felix Hütten

Es sind diese nackten Krankenhausflure, die Ärzte und Pfleger durchschreiten, meist zu einer Zeit, in der der Körper nach Schlaf bettelt. Das Licht der Neonröhren: weiß. Die Klamotten: weiß. Die Wände: weiß. Auf dem Weg zur Station: Was bringt der Tag? Tod, Leben, Leid? Dankbarkeit? Hat Frau M. wieder eingenässt in der Nacht? Ist die Operationswunde von Herr H. endlich verheilt? Hoffentlich hat Kollegin S. heute nicht Dienst. Man mag sich, man mag sich nicht.

Dann wartet der Tod, je nach Station mal mehr, mal weniger. Egal zu welcher Uhrzeit, egal, wie fit man sich fühlt. Patienten sterben im Krankenhaus, das gehört zum Geschäft. Mancher Tod ist eine Erleichterung für Pfleger und Ärzte, weil der Mensch gelitten hat, weil klar war, dass die Medizin bei ihm an eine Grenze stößt. Manche sterben, und man empfindet das als ungerecht. Es wurde doch so viel getan für diesen Menschen, extra noch mal eine Biopsie angeordnet, außerplanmäßig operiert, den Verwandten gut zugeredet. Die Natur siegt über den Körper, immer wieder.

Das ist der Alltag auf deutschen Krankenstationen, wie er sich wahrscheinlich auch im Fall des ehemaligen Krankenpflegers Niels H. zugetragen hat. Weil das Sterben zu seiner Arbeit gehört, wurden seine Taten zunächst nicht entdeckt. Bis erste Zweifel laut wurden. Heute weiß man: Zum Alltag von Niels H. gehörte wohl auch Mord.

Offenbar hat er 30 Patienten, vielleicht auch bis zu 200, absichtlich in den Tod geschickt. Er hat ihnen das Herzmedikament Gilurytmal gespritzt. Der Wirkstoff mit dem nicht weniger komplizierten Namen Ajmalin verhindert an den Zellen des Herzens den Einstrom von Natrium. Das wiederum hemmt die Erregung des Herzens. Das Medikament wird bei schweren Rhythmusstörungen eingesetzt, die unbehandelt zum Tod führen können.

Der Tod war nicht das Ziel

Die Substanz ist gefährlich. Eine zu hohe Dosis, zu schnell injiziert, führt unmittelbar zum Herzstillstand. Ein ähnlicher Mechanismus wird bei einer Überdosis Kalium in Gang gesetzt. Niels H. hat wohl mit beiden Wirkstoffen getötet. Dabei war das gar nicht sein Ziel.

Niels H. war wohl, wie man im Krankenhaus-Jargon sagt, ein Rettungsrambo. "Er wollte den Tod besiegen", urteilt Psychiater Konstantin Karyofilis, der Niels H. für das Gericht begutachtet hat. Das klingt zunächst paradox. Doch Niels H. ist schuldfähig, der Experte diagnostiziert keine psychische Erkrankung. Nichts, was seine Fähigkeit hätte beeinträchtigen können, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Den Tod der Menschen habe er in Kauf genommen für sein Verlangen nach Anerkennung. Niels H. wollte zeigen, wie gut er retten kann. Er wollte bei schweren Notfällen ein Held sein, sagt Karyofilis in einem Interview mit der Ärztezeitung. Und weil es diese Notfälle in seinem Alltag nicht gab, jedenfalls nicht oft genug aus seiner Sicht, hat er sie herbeigespritzt, bis seinen Opfern das Herz stehen blieb. Dann zählt jede Sekunde.

Wiederbelebung ist eine knifflige Angelegenheit. Manche Pfleger, auch manche Ärzte, haben Angst davor. Es müssen sehr schnell viele Entscheidungen getroffen werden. Es kann hektisch werden, jeder Handgriff muss sitzen. Dafür gibt es Leitlinien, die immer wieder geübt werden, die man kennen muss. Weil aber nicht jeder Pfleger und nicht jeder Arzt regelmäßig reanimiert, künstlich beatmet und die für den entsprechenden Fall richtige Dosis von Notfallmedikamenten im Kopf hat, gibt es vor allem in großen Kliniken einen so genannten Herzalarm. Ausgelöst wird er meist mit einer Klingeltaste nahe der Tür. Wird sie gedrückt, macht sich sofort ein Reanimations-Team auf den Weg in die entsprechende Station.

Krankenkassen fordern mehr Obduktionen

Das Team besteht meist aus Narkoseärzten und Intensivpflegern, Leute mit Notfallerfahrung, perfekt ausgebildet. Doch je nach Größe des Hauses kann es dauern, bis sie da sind. Reanimiert werden muss aber sofort. Jede Minute, ja Sekunde, die ein Gehirn ohne Sauerstoff auskommen muss, ist eine zu viel. Und so kommt es, dass man auf einer Station dankbar ist, wenn ein Pfleger Erfahrung in solchen Notfällen hat und eingreift, bevor es für den Patienten zu spät ist.

Niels H. war so ein Pfleger. Er war rechtzeitig am Krankenbett und wusste, was zu tun ist. Einige seiner Opfer überlebten die Dosis der Medikamente, die Wiederbelegung gelang. Das Gefühl, im Team einen Menschen zurück ins Leben geholt zu haben, ist überwältigend. Dieses Gefühl suchte Niels H. offenbar. Abklatschen, gut gemacht, Lob von allen Seiten. Er habe sich wie auf einem "Podest" gefühlt, wenn er wieder einmal einen Patienten dem Tod entrissen habe, heißt es vor Gericht. Sein Plan ging auf. Zunächst.

Wer Patienten schützen will, braucht ein Alarmsystem für Pfleger und Ärzte, die in den Rausch der Anerkennung abzudriften drohen. Denn dieser Rausch, der die kalten Krankenhausflure am Morgen vergessen macht, der den manchmal ermüdenden Stationsalltag aufbricht, dieser Rausch kann süchtig machen. Von ähnlichen Fällen weiß man, dass manche Täter bei ihren Verbrechen einen Kick erleben, in einen sportlichen Weitkampf mit sich selbst geraten können. Sie jagen der Antwort nach, ob sie es auch diesmal wieder schaffen, einen Menschen zu retten. Im Fall Niels H. wurde spätestens im Jahr 2005 klar: Bei vielen der Patienten gelang das nicht, die Dosis war oft zu hoch, der Versuch der Wiederbelebung chancenlos.

Schon lange fordern Vertreter von Krankenkassen und Politik wegen solcher Fälle eine Obduktionsquote, bei der stichprobenartig verstorbene Menschen untersucht werden. Auch dürften Meldungen bei der Klinikleitung über auffällige Mitarbeiter nicht länger als Verrat gelten. Denn das Gefälle zwischen Patienten und Klinikpersonal ist groß. Wer töten will, kann das in einem Krankenhaus sehr einfach tun. Bekannt geworden sind in den vergangen Jahren drei ähnliche Fälle solcher Morde in Deutschland.

Gegen die Täter gibt es trotz Vorsichtsmaßnahmen wie Medikamentenlisten und Panzerschränke für Betäubungsmittel keinen ultimativen Schutz. Es kann ihn nicht geben, auch, weil ihre Motive unterschiedlich sind. Pfleger und Ärzte, die täglich mit Medikamenten, Skalpellen und Atemgeräten zu tun haben, können diese falsch anwenden - ob aus Geltungssucht, Mordlust, Verzweiflung und Depression. Oder einfach, weil sie einen Fehler machen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: