Milliardenüberschuss im Gesundheitswesen:Warum Patienten profitieren, wenn Mediziner sparen

Die plötzlich im Gesundheitswesen entdeckten Milliarden könnten sinnvoll genutzt werden: Damit lassen sich die Beiträge für Versicherte senken und endlich die Praxisgebühr abschaffen. Doch die Suche nach Einsparmöglichkeiten in der Medizin sollte weitergehen. Nicht damit die Heilkunde günstiger, sondern damit sie besser wird.

Werner Bartens

Der größte Schatz, über den Ärzte und Pflegekräfte verfügen, ist der Vertrauensvorschuss der Patienten. Kranke verlassen sich darauf, dass sie zuverlässig und nach höchsten Standards behandelt werden. Doch auch wenn Ärzte und Pflegekräfte sich für ihre Patienten zerreißen, können sie nicht immer beste Qualität garantieren. Seit vergangenem Jahr veröffentlichen amerikanische Ärztevereinigungen Listen unter dem Titel "Less is more". Die Mediziner sind es leid, dass Patienten Untersuchungen vorgeschlagen und Behandlungen aufgedrängt werden, die im besten Fall überflüssig, im schlimmsten Fall schädlich sind.

Geld für eine bessere Behandlung ist genug da - und sogar noch mehr: In keiner Branche werden so enorme Summen verschwendet wie im Gesundheitswesen. Das zeigt sich an den Reserven in Höhe von 19,5 Milliarden Euro, die von den Krankenkassen aufgehäuft worden sind; allein der 2011 erwirtschaftete Überschuss betrug vier Milliarden Euro. Dieser Geldregen kam gleichsam unmerklich zustande, denn Patienten haben auch nicht mehr als zuvor von Einsparungen gespürt oder gesundheitliche Nachteile in Kauf nehmen müssen.

Aufhören! So lautet die Forderung der Ärzte, die regelmäßig in führenden Fachzeitschriften wiederholt und mit immer neuen Beispielen illustriert wird: Bei unkomplizierten Rückenschmerzen ist kein Röntgen, CT oder Kernspin nötig. Gegen grippale Infekte helfen keine Antibiotika. Nein, auch bei einer vermeintlichen Superinfektion mit Bakterien verkürzen sie den Krankheitsverlauf nicht. Beschwerdefreie Gesunde brauchen kein Routine-EKG und auch keine Routinetests von Blut oder Urin. Hustensäfte und Erkältungsmittel sind völlig nutzlos und ein Kind, das auf den Kopf gefallen ist und nicht bewusstlos war, muss nicht zur Untersuchung in die Röhre.

Man kann es nicht oft genug wiederholen: Bei diesen wissenschaftlich belegten Empfehlungen zum Verzicht geht es nicht primär um Einsparungen, sondern um bessere Medizin und mehr Sicherheit für Patienten. Dieses Motto gilt auch für die seit Jahrzehnten von Experten - und von Politikern, bevor sie sich dem Lobby-Druck beugen - geforderte Positivliste, die statt der 60.000 Medikamente auf dem Markt eine Beschränkung auf 1500 Mittel für die Klinik, 500 für den Internisten und 200 für den Hausarzt fordert. Nicht, um Patienten etwas wegzunehmen, sondern um sie sicherer und wirkungsvoller zu behandeln. Neue Medikamente, das haben vielfältige Analysen nicht nur bei Blutdrucksenkern, Psychopharmaka und Schmerzdämpfern gezeigt, sind oft nicht besser, sondern nur teurer und mit mehr Nebenwirkungen behaftet als die bewährten Pharmaka.

Ein weiteres riesiges Einsparpotential, das Patienten vor unnötigem Leid bewahrt, liegt im technischen Bereich, vor allem in Kliniken. Wie wenig Medizinprodukte kontrolliert und auf ihren Nutzen für Patienten hin untersucht werden, haben Skandale um Brustimplantate, Hüftprothesen und Herzschrittmacher gezeigt. Dass sich keine Behörde dafür interessiert, ob Patienten von einem Medizinprodukt profitieren, ist Ärgernis genug. Hinzu kommt die absurde Tatsache, dass Verfahren im Krankenhaus so lange erstattet werden, bis sich zeigt, wie gefährlich sie sind - und nicht etwa, weil ihr Nutzen bewiesen wäre.

Medizin kann zur Bedrohung werden

In dieser Kombination wird Medizin manchmal sogar zur Bedrohung für Patienten. So ist nur jede vierte der als Stent bezeichneten Gefäßstützen bei Herzkranken tatsächlich medizinisch angezeigt und die Zementierung von Wirbelkörpern bei Osteoporose mit mehr Nach- als Vorteilen verbunden. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Das nun plötzlich im Gesundheitswesen entdeckte Geld kann sinnvoll genutzt werden: Damit lassen sich die Beiträge für Versicherte senken, endlich kann die Praxisgebühr abgeschafft werden und obendrein sind die Krankenversicherer trotzdem noch in der Lage, Rücklagen zu bilden. Möglich sind alle diese Schritte, wenn die bemerkenswerte Kassen-Reserve als Signal zum Aufbruch verstanden wird.

Das Signal sollte jedoch nicht so verstanden werden, dass jede Lobbygruppe ihre Sparbemühungen rückgängig machen oder Überschüsse ausgeschüttet bekommen will. Vielmehr geht es darum, nach den vielen weiteren Einsparmöglichkeiten in der Medizin zu suchen - nicht, damit die Heilkunde günstiger, sondern damit sie besser wird. Und besser wird sie vor allem dann, wenn auf Unnötiges verzichtet wird, das Patienten gefährdet statt ihnen zu helfen.

Die Bürger sollten Beiträge erstattet bekommen, damit sie spüren, dass sie doppelt profitieren, wenn die Medizin besser und günstiger wird. Ärzte sollten dabei die natürlichen Verbündeten ihrer Patienten sein und ihnen vermitteln, dass sie nicht an ihnen sparen, sondern ihnen Leid ersparen, wenn sie weiter auf Schatzsuche gehen und überflüssige Methoden streichen. Ob diese Umkehr zu einer rationalen und besseren Medizin mit dem Gesundheitsministerium zu machen ist, darf indes bezweifelt werden. Solange die Riege um FDP-Minister Bahr Gesundheit vor allem als Wachstumsmarkt auffasst, wird sie die Devise "Weniger ist mehr" nicht als Patientenschutz verstehen, sondern als bedrohlichen Konjunktureinbruch für die Medizinindustrie.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: