Süddeutsche Zeitung

Medizinisches Cannabis:Warten auf das hilfreiche Gras

Seit fast 100 Tagen gibt es Cannabis auf Kassenrezept, doch viele Schmerzpatienten stehen noch immer vor hohen Hürden.

Von Kim Björn Becker

An besonders schlimmen Tagen, und davon gibt es einige, kann Maria nicht einmal mehr klar sehen. Das Bild ist dann verzerrt, gestört, so stark sind ihre Kopfschmerzen. Die 28-Jährige lebt schon seit ihrer Jugend damit, an ein Leben ganz ohne den Schmerz kann sie sich gar nicht mehr erinnern. Kein Arzt und kein Medikament konnten Maria bislang helfen, nur eine Sache verschafft Linderung: Cannabis. Seit ihrer Jugend konsumiert sie Marihuana - nicht um high zu sein, sondern um so etwas wie einen Alltag haben zu können. Damit sie den Schmerz eine Zeit lang vergessen kann, baut sie in ihrer Wohnung Marihuana an. In Deutschland ist das noch immer eine Straftat, und darum nennt Maria nicht ihren richtigen Namen und sagt auch nicht, wo sie lebt - irgendwo in Süddeutschland, das genügt.

Wenn es nach der Bundesregierung geht, dann sollte es Schmerzpatienten wie Maria seit einigen Wochen sehr viel besser gehen. Denn seit Anfang März ist ein neues Gesetz in Kraft, das es Ärzten erstmals ermöglicht, Cannabis und cannabishaltige Mittel zu verschreiben - und die Krankenkasse soll zahlen, wie bei jedem anderen Medikament auch. Bis dahin war es zwar auch möglich, Cannabis auf legalem Weg zu bekommen, doch das Verfahren war sehr aufwendig: Eine Sondererlaubnis des Bonner Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte musste her, zuletzt hatte die Behörde etwa 1100 davon bundesweit ausgestellt. Und auf den Kosten von teils mehreren Hundert Euro blieben die Patienten auch noch sitzen. Damit sollte Schluss sein.

Doch nach den ersten knapp 100 Tagen ziehen Betroffene eine nüchterne Bilanz. Maria sagt, sie habe seit dem Inkrafttreten des Gesetzes an die 20 Ärzte aufgesucht, doch keiner wollte ihr das dringend benötigte Gras verschreiben. "Es hat sich nichts geändert, vor allem, weil viele Mediziner sich nicht informieren", sagt Maria. "Sie haben eine Verpflichtung, den Kranken zu helfen. Stattdessen geben sie mir das Gefühl, ein Junkie zu sein."

Natürlich müsse sichergestellt sein, "dass die Schmerzpatienten, denen mit Cannabis geholfen werden kann, schnell Zugang zu der Form der Therapie erhalten", sagt Ulrich Weigeldt, Chef des Deutschen Hausärzteverbands, der Süddeutschen Zeitung. Dazu müssten aber erst entsprechende Leitlinien zur Behandlung entwickelt werden. Derzeit sind die zugelassenen Arzneimittel Sativex und Canemes verfügbar, zudem können Ärzte Cannabisextrakte und -blüten verschreiben.

Bei der erstmaligen Verordnung von Cannabis muss die Krankenkasse des Patienten hinzugezogen werden - sie kann eine Übernahme der Kosten ablehnen, wenn ihr die Therapie mit Marihuana nicht sinnvoll erscheint. Bei der Techniker Krankenkasse (TK) sind seit Anfang März 450 Anträge auf Kostenübernahme eingegangen, in allen Fällen hat die TK den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) um ein Gutachten gebeten. In 263 Fällen befürworteten die MDK-Ärzte eine Therapie mit Cannabis, in 187 Fällen waren sie dagegen. Bei der Barmer gingen bis Mitte Mai 150 Anträge ein, in 70 Fällen sagte sie zu, die Kosten zu übernehmen. Seit einiger Zeit beobachte man aber einen Anstieg der eingehenden Anträge, sagte ein Sprecher. Derzeit meldeten sich pro Tag etwa acht Versicherte bei der Barmer.

Bis sie einen Arzt gefunden hat, der ihr die richtigen Cannabisblüten verschreibt, behilft sich Maria weiter selbst und hofft, wegen ihrer Schmerzen nicht eines Tages vor Gericht zu stehen. "Gerade probiere ich ein spezielles Öl aus", sagt Maria. Sie hat es aus dem Internet, es kommt aus dem EU-Ausland. Offiziell handelt es sich dabei um ein Nahrungsergänzungsmittel, zehn Milliliter kosten an die 60 Euro. Das reicht voraussichtlich für etwa einen Monat. "Wenn ich ein paar Tropfen nehme, bin ich einige Stunden schmerzfrei", sagt Maria. Das Geld dafür kommt von ihren Eltern - ohne Rezept zahlt die Kasse ja nichts.

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Quelle:
SZ vom 10.06.2017
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