Medizin:Unser Fortschrittsdenken wird zum Problem

Europas modernste Medizintechnik in der München Klinik Neuperlach
(Foto: Florian Peljak)

Zu oft führt der medizinische Fortschritt zu überflüssigen Diagnosen, setzt falsche Anreize und geht zu Lasten der Schwächeren. Eine Abrechnung.

Gastkommentar von Andreas Lübbe

Offenbar bedarf es in der heutigen Zeit mehr als nur der Skandale, um Veränderung zu erwirken. Skandale im Gesundheitswesen gab und gibt es ja genug. Sie werden als Einzelfälle abgetan. Dass sich dahinter tragische Schicksale verbergen, interessiert auf Dauer nur den engsten Kreis der Opfer und deren Angehörige. Es geht um die Hinterbliebenen von Dutzenden Toten durch den Serienmörder Niels Högl, der in deutschen Krankenhäusern offenbar machen konnte, was er wollte. Es geht um die unzähligen Schwerkranken in vielen Klinken, die falsch behandelt oder vernachlässigt werden, und um die Alten und Dementen in den Heimen oder zu Hause, die viel zu häufig von Ungelernten betreut werden. Es geht um Arzneimittelskandale und Pflegebetrug. Von einem Systemversagen will niemand sprechen.

Stattdessen steigen stetig die Ausgaben im Gesundheitswesen. Begründet wird das mit dem demografischen Wandel und dem sogenannten medizinischen Fortschritt, dem man folgen muss. Niemand ist gegen Fortschritt. Doch er bringt eben auch Rückschritt, wenn er zu Lasten der schwächeren Bereiche geht oder wenn er falsch verstanden wird. Fortschrittsdenken wird zum Problem, wenn es als Feigenblatt dient, um mehr Leistungen abzurechnen, wettbewerbsfähig zu wirken, Rendite zu machen. Rendite hat im Gesundheitswesen nichts zu suchen.

Viele Fortschrittsmeldungen verblassen bei genauerem Hingucken. Der Bluttest zur Früherkennung von Brustkrebs, aus dem Heidelberger Universitätsklinikum an die Bild-Zeitung weitergereicht, entpuppte sich zum Beispiel als dubiose "Vitamin B"-Intrige.

Woran muss sich medizinischer Fortschritt messen lassen? Er sollte die Lebensdauer von Menschen steigern, die Lebensqualität verbessern und vielleicht die Zufriedenheit von Patienten und Personal erhöhen. Kann der medizinische Fortschritt in Deutschland diese Kriterien erfüllen? Hier die Fakten: Unter den Westeuropäern haben die Deutschen die geringste Lebenserwartung. Hierzulande ist es nicht möglich, ein Präventionsprogramm, das den Namen verdient, bereits in den Kindertagesstätten und Schulen umzusetzen. Die Deutschen essen zu viel und das Falsche, sie bewegen sich zu wenig, trinken zu viel Alkohol, sind sehr bildschirmaffin und wenig gesundheitskompetent.

Der medizinische Fortschritt als Paradoxon

Der Psychiater Klaus Dörner hat schon vor Jahren den medizinischen Fortschritt als Paradoxon entlarvt. Durch immer mehr Diagnosen und Angebote im Gesundheitswesen steige die Erwartung, erhöhe sich die Aufmerksamkeit und werde man als Bürger dazu gezwungen, die Gesundheit zu einem Lebenszweck zu erheben. Tatsächlich erhöht sich die Zahl der Schmerzpatienten trotz immer besserer Therapie, und die Zahl der Brustkrebspatientinnen steigt, auch aufgrund der Früherkennung bei der Mammografie. Befindlichkeitsstörungen werden zu Krankheiten, normales Altern findet nicht statt.

Vor allem aber versagt der Fortschritt im öffentlichen Gesundheitswesen. Dort will kein Arzt mehr arbeiten, weil er nicht genug verdient und das Fachgebiet weder bekannt ist, noch wertgeschätzt wird. Mehr Ärzte, die Untersuchungen in Kitas und Schulen durchführen und mit den Lehrern gemeinsam für einen gesunden Lebensstil werben, würden weniger Patienten von morgen bedeuten. Mehr Pflegekräfte, die Patienten helfen, die Medikamente auch einzunehmen, die ihnen der Arzt verordnet hat, würde zu deutlich weniger Klinikeinweisungen führen. Hätten wir mehr Hausärzte, die sich mehr Zeit für ihre Patienten nehmen können - wir hätten wohl weniger Kranke.

In Deutschland findet keine ernsthafte Debatte statt, was gute Versorgung eigentlich heißt

Pflegenotstand und Hausärztemangel sind ein Problem, das auch dem falschen Fortschritt geschuldet ist. Immer mehr Sonderleistungen, die zu nichts führen, und die Annahme, nur durch Fachärzte eine gute Medizin zu erhalten, haben dazu beigetragen, dass es jetzt allerorten an der Allgemeinversorgung mangelt. Gesundheitsökonomen weisen schon lange darauf hin, dass von den 2000 Krankenhäusern in Deutschland 500 geschlossen werden müssten, damit das dort vorhandene Personal in den 1500 anderen arbeiten kann, um da eine insgesamt bessere Medizin zu machen. Die Empfehlungen werden ignoriert, weil man sich nicht traut, lokale Krankenhäuser zu schließen; kleine Einrichtungen, die vorgeben, alles behandeln zu können und in denen Patienten konkret zu Schaden kommen.

Wo bleibt der Fortschritt in der Psychiatrie? Modeerscheinungen und erfundene Diagnosen verschlingen enorme wissenschaftliche Ressourcen und ernsthaft psychiatrisch erkrankte Patienten suchen sich zugleich die Finger wund, um einen Therapeuten zu bekommen. Es fehlt in Deutschland an einer Priorisierung in der Medizin. Das liegt auch daran, dass eine ernsthafte Debatte darüber, was gute Versorgung eigentlich heißt hierzulande, bislang nicht zustande gekommen ist. Da sich komplizierte Fälle nicht rechnen, werden Patienten weitergereicht. Gegenüber anderen Ländern werden in Deutschland noch immer viel zu viele Patienten stationär behandelt. Das wiederum lohnt sich nämlich sehr wohl.

Während Deutschland in bestimmten Bereichen weltweit mit führend ist, versagen wir bei der Versorgung älterer, multimorbider, chronisch kranker Menschen. Hier wird das Akutmedizinschema auf die chronisch Kranken übertragen mit dem Ergebnis, dass jede einzelne Krankheit leitliniengerecht behandelt wird, de facto beim Patienten jedoch unter Umständen 18 verschiedene Arzneimittel ankommen, die ihn noch mehr leiden lassen. Patienten fürchten sich, am Lebensende der Hochleistungsmedizin unterworfen zu werden, weil ja der falsch verstandene Fortschritt suggeriert, hier etwas in der Hand zu haben. Dass es auch ein Fortschritt sein könnte, Menschen würdig und unter Berücksichtigung ihrer Lebensziele zu behandeln, gerät dabei aus dem Fokus.

Wahrer Fortschritt wäre es, den gesamten Menschen mit all seinen Krankheiten zu würdigen und ihm unter Berücksichtigung seiner Lebensziele gerecht zu werden. Doch wer gibt Anreize angesichts der Rahmenbedingungen für Ärzte, auch tatsächlich so zu handeln, wenn der ökonomische Druck, die Betten voll zu bekommen und die Praxen nicht leerlaufen zu lassen, dominiert? Nicht zuletzt behindern juristische Auflagen ein behutsames und bedachtes Vorgehen. Aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen entscheiden sich Ärzte eher für als gegen eine indiziert erscheinende Maßnahme. Ein gesellschaftlicher Fortschritt wäre es, wenn kein Arzt grundsätzlich befürchten müsste, in rechtliche Schwierigkeiten zu geraten, wenn er mit seinem Patienten gute Gespräche führt und dann gemeinsam mit ihm zu der Erkenntnis gelangt, etwas zu unterlassen, was vielleicht in anderen Fällen indiziert erscheint.

Gute fortschrittliche Medizin bedeutet, Krankheiten zu verhüten, dem Patienten zu nutzen und ihm möglichst nicht zu schaden. Manchmal ist weniger mehr.

Professor Andreas Lübbe ist Onkologe und Palliativmediziner am Medizinischen Zentrum für Gesundheit Bad Lippspringe.

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