Medizingeschichte:Annalen der Aufschneider

Operationen in Eigenregie, anatomische Wunder, Prominente mit ungewöhnlichen Vorlieben: Ein neues Buch beschreibt erstaunliche chirurgische Eingriffe - und Eitelkeiten.

Von Berit Uhlmann

8 Bilder

Jan de Doot Blasenstein

Quelle: o.H.

1 / 8

Der Schmied, der sich selbst operierte

Zweimal schon hatte der Steinschneider den Amsterdamer Schmied Jan de Doot enttäuscht. Man schrieb das Jahr 1651, de Doot quälte ein schmerzhafter Blasenstein. Die Steine waren damals eine Volkskrankheit, Steinschneider gefragte Dienstleister, wenngleich mit geringer Erfolgsrate. Die 60 Prozent der Kunden, die die Entfernung des Steins überlebten, hatten hinterher nicht selten schlimmere Beschwerden als vorher.

De Doot schmiedete sich also ein scharfes Messer, schnitt das Fleisch unterhalb des Rektums auf und zerrte und presste solange, bis er einen hühnereigroßen Stein herausbekam. Er übernahm es auch selbst, ein Loblied auf den Eingriff zu dichten: "Was staunet man im ganzen Land / über diese glückliche Hand ...".

Doch eine wirklich gute Idee war dieser Eingriff nicht. Denn die Wunde, in der er ohne Einblick nach dem Stein angelte, geriet ungewöhnlich groß und entzündete sich heftig. Der Mann musste dann doch einen Wundarzt kommen lassen und litt trotzdem noch lange unter Schmerzen.

Solche und ähnliche Geschichten erzählt der niederländische Chirurg Arnold van de Laar in seinem Buch: "Schnitt!" Dabei gehen Mut und Pioniergeist oft mit dem Allzumenschlichen einher: mit Irrungen, Eitelkeiten und seltsamen Ideen.

Illustration eines zeitgenössischen Mediziners zu de Doots Messer und dem Blasenstein

Harry Houdini

Quelle: SZ Photo

2 / 8

Gefesselt und dem Tode geweiht

Dies ist die Geschichte eines fatalen Zögerns: Der Entfesselungskünstler Harry Houdini befand sich auf dem Weg zu einem Auftritt in Detroit, als er sich fiebrig und unwohl fühlte. Telegrafisch bat er darum, gleich nach seiner Ankunft einen Arzt zu konsultieren. Doch irgendetwas lief schief. In Detroit angekommen, fand sich entweder kein Arzt, keine Zeit oder kein Wille für die Untersuchung. Houdini schleppte sich auf die Bühne - mit hohem Fieber, starken Schmerzen und all seinen Fesseln. Als ein Arzt nach der Show den Patienten sah, war sofort klar: Dieser Bauch muss aufgeschnitten werden. Er entpuppte sich als völlig vereitert; der Patient war, in einer Zeit, da es noch keine Antibiotika gab, nicht mehr zu retten. Der große Houdini starb an einer banalen Blinddarmentzündung, die zu spät erkannt wurde.

Albert Einstein

Quelle: AP

3 / 8

Butterbrottüte in Einsteins Bauch

Bauchschmerzen, Brechreiz, Bewegungsdrang: Als der 69-jährige Albert Einstein über diese Symptome klagte, schien alles auf Gallensteine hinzudeuten. Sein Arzt aber ging so gründlich vor, dass er die korrekte Diagnose stellen konnte: Der Physiker litt an einer ballonartigen Erweiterung der Aorta. Solch ein Aneurysma kann jederzeit platzen, der Patient verblutet dann. Tatsächlich fand der Chirurg im Bauch Einsteins ein Aneurysma von der Größe einer Grapefruit. Nur wusste man damals - im Jahr 1948 - noch nicht, wie man es beheben könnte.

Der Arzt bastelte sich kurzerhand selbst eine Lösung. Er wickelte Zellophan um die gedehnte Ader und hoffte, dass der Körper als Reaktion Narbengewebe bilden und somit die Wand des Gefäßes verstärken würde. Mit dieser Art Butterbrottüte experimentierten damals einige Mediziner, eine etablierte Methode war sie nicht. Dennoch überlebte Einstein mit der Heimwerkerlösung noch sieben Jahre, weit länger als der Durchschnittspatient. Das Verdienst dafür kann sich aber höchstwahrscheinlich nicht der Chirurg anrechnen, Einstein hatte einfach Glück.

John F. Kennedy, Jacqueline Kennedy, John Connally

Quelle: AP

4 / 8

Loch im Hals des Präsidenten

Als der Arzt die Notaufnahme betrat, bekam der Patient keine Luft mehr. Der Mediziner führte unverzüglich einen Luftröhrenschnitt aus, um einen Schlauch in die Luftröhre schieben zu können. Praktischerweise nutzte er dazu eine Schusswunde, die der Verletzte im Hals hatte. Der Patient war John F. Kennedy, die Wunde hatte ihm kurz zuvor ein Attentäter zugefügt. Für den Präsidenten kam jede Hilfe zu spät.

Medizinisch hat der Arzt vermutlich alles richtig gemacht. Doch als er kurz darauf vor die Presse trat, irrte er auf folgenschwere Art. Er ließ sich dazu hinreißen, das Loch im Hals als Einschussloch zu bezeichnen. Doch nach allem, was hinterher herausgefunden wurde, muss es sich um das Austrittsloch der Kugel gehandelt haben - aus kriminalistischer Sicht ein entscheidendes Detail. Die Aussagen des gestressten Mediziners führten zu Verwirrungen und Verschwörungstheorien, die bis heute anhalten. Der Bericht des zupackenden jungen Arztes, der die Wunde mit eigenen Augen gesehen hatte, fühlte sich einfach wahrer an als die trockenen Autopsieberichte, die später erschienen.

Das Foto zeigt die Wagenkolonne des Präsidenten unmittelbar vor dem Attentat

DEUTSCHES HERZZENTRUM BERLIN

Quelle: DPA/DPAWEB

5 / 8

Anfängerfehler eines Starchirurgen

Michael DeBakey war der Gefäßchirurg und der Star seiner Zunft. Er operierte die Beine von Marlene Dietrich, legte Boris Jelzin einen fünffachen Bypass und war wesentlich an der Entwicklung des Kunstherzens beteiligt. Als der gestürzte Schah von Persien, Mohammad Reza Pahlavi, 1980 an einer vergrößerten Milz litt, war für ihn sonnenklar, dass nur der gefeierte Mediziner das Organ herausschneiden durfte. Dass DeBakey als Gefäßchirurg keine besondere Erfahrung mit Milz-OPs hatte, störte keinen der Beteiligten. Der Mediziner entfernte also die Milz und dummerweise auch ein Stück von der Bauchspeicheldrüse. Das ist ein Fehler, vor dem schon Anfänger gewarnt werden. Die Drüse sondert aggressive Verdauungssäfte ab, die das umliegende Gewebe schwer schädigen können.

Der Schah litt nach der OP monatelang unter Fieber, ohne dass der Starchirurg oder seine Kollegen eine Erklärung fanden. Schließlich wagte des Schahs Leibarzt das Undenkbare zu denken: Hatte der große Gefäßchirurg bei der Milzentfernung geschlampt? Er ließ den erstbesten Chirurgen den Bauch öffnen und fand tatsächlich einen großen Abszess im Oberbauch. Obwohl dieser entfernt wurde, starb der Schah kurze Zeit später an inneren Blutungen. Die Säfte der Bauchspeicheldrüse hatten eine Arterie derart angegriffen, dass sie riss.

Das Foto zeigt DeBakey (Mitte) bei einer Herzoperation

Attentat auf Papst Johannes Paul II., 1981

Quelle: DPA

6 / 8

Das anatomische Wunder des Papstes

Papst Johannes Paul der II. war der meistoperierte Papst der Geschichte. Auch nachdem 1981 auf ihn geschossen worden war, musste er in den OP. Nach dem fünfstündigen Eingriff verkündete der Chef des Chirurgenteams der Weltöffentlichkeit: "Nach keinem Anatomiebuch wäre es möglich, dass eine Kugel quer durch einen Menschen hindurchschießt und dabei so viele lebenswichtige Organe verfehlt." Der Papst setzte später noch eines drauf und erklärte, die Kugel sei "von einer mütterlichen Hand geleitet" in ihn gedrungen.

Das waren gewagte Äußerungen, denn immerhin hatte das Projektil sechs Löcher in seinem Darm hinterlassen, das Kreuzbein durchschlagen und ihn mindestens drei Liter Blut gekostet. Und angesichts der Fallhöhe, die die Beteiligten schufen, mutet das Nachspiel dieser OP umso seltsamer an: Die Chirurgen hatten abweichend vom Standard nichts vom verletzten Dickdarm entfernt, sondern ihn lediglich wieder zusammengenäht. Das ging gut, doch Jahre später wuchs just an der "von mütterlicher Hand" gewählten und daraufhin zusammengenähten Stelle ein Tumor. Er hatte höchstwahrscheinlich nichts mit der früheren Verletzung zu tun, doch hätte man das Darmstück entfernt, hätte es den Tumor nicht gegeben.

ALAN SHEPARD

Quelle: DPA

7 / 8

Schein-OP des Mondfahrers

Manchmal gelingen Chirurgen die größten Erfolge, wenn sie genaugenommen nichts Richtiges machen. Alan Shepard war der erste US-Amerikaner, der ins Weltall flog und wollte danach unbedingt zum Mond. Unglücklicherweise entwickelte er die so genannte Menière-Krankheit, bei der - möglicherweise auch aus psychischen Ursachen - heftige Anfälle von Schwindel und Übelkeit auftreten. Seine Karriere als Astronaut schien damit beendet.

Shepard aber wollte dieses Schicksal nicht hinnehmen. Er ließ sich am Innenohr, dem Entstehungsort der Anfälle, operieren. Die Schwindelattacken verschwanden, Shepard leitete sehr erfolgreich die Apollo 14-Mission zum Mond. Nur: Wie sich später zeigte, geht der Erfolg der Operation höchstwahrscheinlich auf einen Placebo-Effekt zurück. Denn als man das Verfahren systematisch überprüfte, fühlte sich auch der Großteil der Patienten, die nur eine Scheinoperation erhalten hatten, von ihren Anfällen befreit.

Buchcover "Schnitt"

Quelle: Pattloch Verlag

8 / 8

Das Buch "Schnitt!. Die ganze Geschichte der Chirurgie erzählt in 28 Operationen" ist im Pattloch Verlag erschienen. ISBN: 9783629130723.

© SZ.de/edi/rus
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: