Süddeutsche Zeitung

Medizinethik:"Tabubruch" bei Demenz-Forschung befürchtet

Der Streit rührt an die Grundwerte von Autonomie und Solidarität: Soll die Pharmaindustrie Medikamente an Demenzkranken testen dürfen, auch wenn die Patienten nichts davon haben?

Von Kim Björn Becker

Vielleicht lag es ja an seinem Namen, dass eine größere Öffentlichkeit erst einmal kaum Notiz von dem Entwurf genommen hat. "Viertes Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften", das klingt nach gesetzgeberischer Routine, aber gewiss nicht nach politischem Sprengstoff. So kann man sich irren. Denn die geplanten Änderungen in dem knapp 70 Seiten langen Text haben es in sich. Mit dem Gesetz will Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) erreichen, dass nicht einwilligungsfähige Patienten unter bestimmten Voraussetzungen an Arzneimittelexperimenten teilnehmen, die ihnen selbst keinen Nutzen bringen.

Die sogenannte gruppen- oder fremdnützige Forschung, wie sie im Fachjargon heißt, ist ethisch umstritten, denn sie setzt den Probanden einem Risiko aus, ohne dass er dafür einen persönlichen Vorteil hat. Es profitieren zum Beispiel nur zukünftige Patientengenerationen. Geistig gesunde Erwachsene können an solchen Studien teilnehmen, heikel wird es aber bei jenen, die nicht "in der Lage sind, Wesen, Bedeutung und Tragweite der klinischen Prüfung zu erkennen und ihren Willen hiernach auszurichten", wie es in dem Gesetzentwurf heißt. Die Formel zielt vor allem auf Demenzkranke.

Demenz

In Deutschland leiden etwa 1,5 Millionen Menschen an Demenz. Die Krankheit zerstört Nervenzellen und Zellverbindungen im Gehirn. Sie äußert sich durch Gedächtnisstörungen, Konzentrationsprobleme sowie Persönlichkeitsveränderungen und wird mithilfe psychologischer Tests diagnostiziert. Demenz ist derzeit nicht heilbar und verläuft progressiv - je länger jemand krank ist, desto schwerer sind meist die Auswirkungen. Dabei spielt das Alter eine wesentliche Rolle: Unter den 70- bis- 77-Jährigen sind vier Prozent betroffen, in der Gruppe der 80- bis 84-Jährigen sind es bereits 15 Prozent. Die Alzheimer-Krankheit ist eine besondere Form der Demenz, sie macht mehr als 60 Prozent aller Krankheitsfälle aus. Kim Björn Becker

Es sei ein "Tabubruch", was da gerade geplant werde, rügt der CDU-Politiker Hubert Hüppe. Demenzpatienten müssten sich darauf verlassen können, dass mit ihnen keine Versuche ohne individuellen Nutzen gemacht werden, sagte er der Süddeutschen Zeitung. Alles andere sei ein "absoluter Vertrauensbruch". Dem hält die Medizinethikerin Christiane Woopen entgegen, dass von einem echten Patientenschutz nur die Rede sein kann, wenn man die Betroffenen "am medizinischen Fortschritt teilhaben lässt". Genau das ermögliche das Gesetz in den gebotenen engen Grenzen. Die beiden großen Kirchen wiederum haben sich früh auf die Seite der Kritiker geschlagen, sie warnten vor einer "Verzweckung" des Menschen. Woopen, die frühere Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, plädiert hingegen dafür, den Begriff des Patientenwohls deutlich weiter auszulegen. Er dürfe nicht nur auf die medizinischen Risiken reduziert werden, sondern müsse auch den Willen des Patienten umfassen.

"Ungeeignet und abenteuerlich"

Und da ist schon das nächste Problem. Natürlich legt kein deutscher Gesundheitsminister ein Gesetz vor, das verwirrte Senioren gegen deren Willen zur Studienteilnahme zwingt. Stattdessen sollen nur jene Alzheimerkranken in gruppennützige Experimente einbezogen werden, die dies vor Ausbruch der Krankheit - also bei klarem Verstand - in einer Patientenverfügung so festgehalten haben. Nur stellt sich für einige die Frage, ob die Patientenverfügung dafür das richtige Instrument ist.

Vor wenigen Tagen haben acht Mitglieder der Ethik-Kommission des Landes Berlin diese Frage sehr deutlich verneint. Die Patientenverfügung ziele auf eine ärztliche Heilbehandlung am Lebensende - und nicht, wie der Arzneimitteltest, auf den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt. Beide Bereiche, so heißt es in einem Schreiben an den Bundestag, "erfordern deshalb unterschiedliche Regelungsregime und können nicht beliebig miteinander verknüpft werden". Genau das aber werde mit der Regelung, die derzeit in der Diskussion steht, erreicht. "Ungeeignet und abenteuerlich" nennt die Juristin Susann Bräcklein, eine Mitautorin des Papiers, den Versuch der Bundesregierung, die heikle Materie rechtlich zu regeln. Dazu kommt, dass laut dem Entwurf der jeweilige gesetzliche Vertreter des Demenzkranken einer konkreten Studienteilnahme gesondert zustimmen muss. Der Betreuer habe aber ausschließlich auf das Wohl des Patienten zu achten, argumentiert Bräcklein - dies schließe fremdnützige Experimente aus. Betreuer von verwirrten Senioren würden damit überfordert und in eine "fragwürdige" Situation gebracht.

Recht wahrscheinlich ist, dass das Gesetz nicht so in Kraft treten wird, wie es das Bundeskabinett auf den Weg gebracht hat. Am Donnerstag sollte es im Bundestag beraten werden. Die Abstimmung wurde wegen der Differenzen aber vertagt. Gesundheitsminister Gröhe machte laut Informationen aus Koalitionskreisen am Montag zwar noch inhaltliche Zugeständnisse an Teile der gespaltenen Unionsfraktion - stieß aber dafür die SPD vor den Kopf. Die drei Koalitionsparteien streiten sich gerade vor allem um die Frage, ob beim Verfassen einer Patientenverfügung eine ärztliche Aufklärung zu Arzneimitteltests vorgeschrieben werden soll oder nicht. Teile der Union sind dafür, weil es den Schutz der Patienten erhöhe; die SPD lehnt dies jedoch strikt ab. Wenn das Arztgespräch zur Pflicht würde, dann "leidet die Patientenverfügung insgesamt", sagte die SPD-Gesundheitspolitikerin Hilde Mattheis der SZ. Werden die Hürden zu hoch, dann könne schlimmstenfalls die Akzeptanz der Verfügung sinken. Gesundheitsminister Gröhe sprach sich nun dafür aus, eine solche ärztliche Aufklärung verbindlich ins Gesetz zu schreiben, was die SPD nicht mittragen will.

Und die Pharmaindustrie? Sie leistete am Wochenende ihren eigenen Beitrag zur Debatte, indem der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (VfA) mitteilen ließ, dass die Konzerne "für ihre Entwicklungsarbeit keine Gesetzesänderung" benötigten. Zwar betonte die Berliner Charité umgehend, dass entsprechende Forschungen dennoch "zwingend erforderlich" seien. Doch da hatten die schärfsten Gegner des Gesetzes den Satz des VfA schon mit Freude aufgenommen.

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Quelle:
SZ vom 07.06.2016
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