Medizin:Wie tödliche Gifte Leben retten

  • Tiergifte wirken schnell und präzise. Richtig dosiert können sie im Körper heilsame Prozesse anstoßen.
  • Über 200 000 giftige Tierarten sind bekannt, wissenschaftlich untersucht wurden davon bislang nur wenige.
  • Sogar Schnabeltiere bilden toxisch Sekrete.

Von Lennart Pyritz

gift

Illustration: Stefan Dimitrov

Auf die richtigen Stiefel kommt es an. Petr Kliment zeigt auf das Paar vor ihm, in das er gleich hineinschlüpfen wird. Sie sehen aus wie ganz normale Gummistiefel, nichts Besonderes. Aber sie schützen ihn vor den Schlangenbissen.

Kliment steht in der Umkleidekabine einer Schlangenfarm in Uetersen bei Hamburg. Die Anlage gehört dem Pharmaunternehmen Nordmark, der groß gewachsene Tscheche leitet sie seit Kurzem. Er kennt den Flur hinter der Schleuse, die sorgsam abgedichteten Fugen. Er weiß, wer hinter den vier schweren Stahltüren auf ihn wartet: tausend Malaiische Grubenottern.

Aus dem Gift der Tiere isoliert das Pharmaunternehmen ein Enzym, das blutverdünnend wirkt - und das in der Vergangenheit bereits therapeutisch eingesetzt wurde. Immer wieder gibt es Hoffnungen, dass sich aus Tiergift neue Arzneistoffe entwickeln lassen. Trotzdem sind pharmazeutische Schlangenfarmen wie die in Uetersen weltweit eine Seltenheit. Zur Zulassung neuer Medikamente auf Basis von Tiergiften kommt es nur in Einzelfällen. Aus Sicht mancher Forscher gibt es dafür eine einfache Erklärung: Die Pharmaindustrie traut sich zu wenig.

Dietrich Mebs hat diese Erfahrung gemacht. Seit einem halben Jahrhundert forscht der emeritierte Professor aus Frankfurt an Tiergiften. Die Leidenschaft verfolgt ihn seit seiner Jugend. 1964, da war Mebs noch ein Student, wäre sie ihm beinahe zum Verhängnis geworden. Per Luftfracht ließ er sich damals eine Gila-Krustenechse aus dem Südwesten der USA liefern - ein stämmiges, schwarz-rosa gefärbtes Reptil.

Als er dem Tier zu Hause Gift abzusaugen wollte, biss es ihn in die Hand. Zum Glück war seine Mutter in der Nähe. Sonst wäre sein Kreislauf zusammengebrochen. Im Krankenhaus gaben ihm die Ärzte Adrenalin und Infusionen. Was das Gift der Reptilien genau im Körper anrichtet, war damals noch unbekannt. Tiergift hat sich über Jahrmillionen Jahre entwickelt. Es blockiert das Nervensystem, es löst Blutkörperchen auf, es lähmt die Atemmuskulatur. Die ideale Waffe, um Feinde außer Gefecht zu setzen.

Gerade weil Tiergift aber so schnell und präzise wirkt, könnte es im Körper auch heilsame Prozesse auslösen. Davon ist der Forscher Mebs überzeugt. Ganz unberechtigt ist die Hoffnung nicht, sie wird von Studien bestätigt. Wissenschaftler haben zum Beispiel nachgewiesen, dass ein Bestandteil aus dem Gift von Feuerameisen Hautkrankheiten lindern kann. Oder dass Schleimfisch-Toxin als Grundlage für neue Schmerzmittel taugt.

An Forschungsobjekten mangelt es nicht: Schätzungen zufolge gibt es etwa 200 000 toxische Arten. Besonders viele finden sich bei Quallen, Insekten, Spinnen und Schlangen - aber auch Schnabeltiere und Plumploris bilden giftige Sekrete. "Im Grunde gibt es in jeder Tierklasse und in jeder Tierordnung Vertreter, die Gift produzieren", sagt Mebs.

Das Gift lässt sich problemlos in Hunderte Komponenten zerlegen. Die meisten sind Eiweiß-Moleküle, oft nicht größer als eine Kette von maximal hundert Aminosäuren, die sogenannten Peptide. Bei Schlangengiften ist die Bandbreite noch größer. Sie können auch Lipide, Zuckermoleküle und Metallionen enthalten. Bei dieser Vielfalt ist es fast verwunderlich, dass es nur fünf Arzneien aus Tiergiften in die Apotheke geschafft haben. An mehr Medikamente kann sich Mebs nicht erinnern.

Richtig bekannt sind zwei Wirkstoffe: ein Insulin-ähnlicher aus der Gila-Krustenechse und ein Schmerzmittel aus dem Gift von Kegelschnecken. Mebs hat eine Vermutung, warum die Entwicklung so schleppend verläuft: "Auf den internationalen Kongressen, wo es um diese Wirkstoffe geht, lässt sich kein einziger Vertreter der Pharmaindustrie blicken." Für ihn ist das ein Zeichen, dass das Interesse grundlegend fehlt.

Das Gift einer Spinne kann das Gehirn vor Schäden nach einem Schlaganfall schützen

Manche Forscher gehen deshalb einen anderen Weg. Der Australier Glenn King will mit besonders kleinen Arten die Aufmerksamkeit der Pharmakonzerne gewinnen. Bugs and drugs - "Krabbel-Getier und Arzneimittel" prangt es groß auf der Internetseite des Forschers von der University of Queensland in Brisbane. Dahinter sieht man ein Foto von den Giftklauen einer Spinne.

Zusammen mit Kollegen hat King 600 verschiedene Nervengifte von Spinnen, Hundertfüßern, Skorpionen, Raubwanzen und ein paar anderen Tieren gesammelt. Für seine Forschung spielen die Ionen-Kanäle eine zentrale Rolle. Das sind Schleusen in der Membran von Nervenzellen, an denen sich entscheidet, welche Stoffe in eine Zelle gelangen und welche draußen bleiben.

Ob sich eine Pore öffnen und schließen lässt, hängt von bestimmten Molekülen ab. King sucht nach ihnen im Nervengift seiner Krabbeltiere. Stellt sich heraus, dass ein Gift den untersuchten Ionen-Kanal erfolgreich verschließt, zerlegen es die Toxikologen in einzelne Komponenten und isolieren schrittweise das wirksame Molekül. Auf diese Weise haben sie bereits eine vielversprechende Substanz im Gift einer Spinne entdeckt. King sagt: "Wir haben gezeigt, dass sich mit diesem Molekül das Gehirn vor Schäden nach einem Schlaganfall schützen lässt - sogar wenn der Wirkstoff erst lange Zeit danach verabreicht wird."

Zurzeit wird das Molekül noch im Tierversuch getestet. Es hätten schon mehrere Unternehmen Interesse gezeigt, erzählt Glenn King. Ob der Wirkstoff tatsächlich irgendwann in einer klinischen Studie am Menschen getestet wird, ist trotzdem ungewiss. Die Konzerne müssen bis zum Ende dabeibleiben, sonst können sie mit ihrem Molekül nichts anfangen. "Das ist für uns sehr frustrierend", sagt King.

Sein französischer Kollege Nicolas Gilles kämpft mit ähnlichen Problemen. Er arbeitet seit 20 Jahren am CEA Saclay, einem staatlichen Forschungszentrum südwestlich von Paris. Zuletzt durchkämmten Gilles und sein Team das Gift der Gewöhnlichen Mamba - einer grünen, etwa zwei Meter langen Schlange. Dabei fanden sie ein Eiweiß-Molekül, das gegen eine Nierenerkrankung helfen könnte. Erste Versuche mit Mäusen waren erfolgreich. Gilles ließ sich das Mamba-Molekül patentieren, schloss einen Vertrag mit einer Pharmafirma. Dann hat das Unternehmen das Projekt gestoppt. Seine Vermutung: Der Firma wurde alles zu kompliziert.

Inzwischen ist der Forscher mit anderen Unternehmen im Gespräch. Er sucht nach einem Partner, der mindestens eine halbe Million investiert und zumindest die ersten Tests abwartet. Um die Pharma-Industrie zu überzeugen, hat er sich eine neue Strategie zurechtgelegt. Statt wie der Australier Glenn King ein Gift als Ganzes auf Zellmoleküle loszulassen und rückwirkend die eine aktive Komponente zu identifizieren, geht er den umgekehrten Weg. Die Gifte werden zuerst in ihre Einzelkomponenten zerlegt und in automatisierten Schnellverfahren auf ihre Wirkung hin getestet. Gilles konzentriert sich auf Peptide - die kleinen Eiweiß-Moleküle, die einen Großteil vieler Gifte ausmachen.

Vor sieben Jahren startete das von ihm koordinierte und von der EU geförderte Projekt Venomics: mit einem Budget von knapp zehn Millionen Euro, Projektpartnern aus fünf Ländern und Giften von mehr als 200 Tierarten - darunter Kegelschnecke, Oktopus und Waran. Das Projekt ist längst abgeschlossen, aber die Ergebnisse liegen noch in einem Eisschrank im Labor von Nicolas Gilles: insgesamt 3600 Gift-Peptid-Proben.

Melken und gutes Futter hilft bei Schlangen. Sie geben dann mehr Gift ab

Erste Versuche zum therapeutischen Potenzial der Peptide verliefen vielversprechend. Drei Prozent reagierten mit Test-Rezeptoren, die bei Entzündungen oder Stoffwechselstörungen eine Rolle spielen - sie könnten also Kandidaten für einen medizinischen Wirkstoff sein. Das klingt zunächst nach einer geringen Quote, aber die Trefferquote der Pharmaindustrie mit künstlich im Labor hergestellten Molekülen liege klassischerweise nur bei 0,03 Prozent, sagt Nicolas Gilles.

Außerdem kann der Franzose einen weiteren Erfolg vermelden: SmarTox Biotechnology, ein französisches Unternehmen, das sich auf Tiergifte spezialisiert hat, will die Vermarktung der Peptid-Datenbank übernehmen.

Auch der Australier Glenn King blickt vorsichtig optimistisch in die Zukunft. Nicht nur weil er selbst vielversprechende Moleküle entdeckt hat. Sondern weil andere Kollegen mit einzelnen Wirkstoffen aus Tiergiften schon kurz vor der Anwendung beim Menschen stehen. Trotzdem mahnt King zur Besonnenheit: "Tiergifte sind eine Sammlung von Molekülen wie jede andere auch."

Das heißt, Wirkstoffe aus Tiergift sind nicht per se besser als die synthetisch hergestellten. Aber auch nicht automatisch schlechter. Dass die Stoffe zielgenau wirken, haben sie in Jahrmillionen bewiesen. Warum sollte man die natürliche Datenbank nicht für Therapien nützen?

Zurück zur Schlangenfarm in Uetersen: ein heller, fensterloser Raum voller Kunststoffboxen mit Gitterdeckeln. In jeder davon liegt eine Malaiische Grubenotter, gelb und braun gemustert mit dreieckigem Kopf. Die Tiere produzieren ein Leben lang Gift. Es kann zu inneren Blutungen führen, zum Absterben ganzer Gliedmaßen. Und im schlimmsten Fall tödlich sein.

Petr Kliment zieht eine Schaumstoff-Unterlage aus einer Schublade und legt sie auf eine metallene Arbeitsfläche. Dann greift er nach einem Haken von der Größe eines Golfschlägers und zeigt, wie das Gift entnommen wird. Zuerst legt man die Schlange mit dem Instrument auf die weiche Matte. Ist sie fixiert, kann man die Zähne frei machen und mit mäßigem Druck auf die Drüsen das Gift extrahieren. Durch das regelmäßige Melken und die gute Futterversorgung produzieren die Labortiere doppelt so viel Gift wie ihre frei lebenden Artgenossen. Das macht die Sache für Kliment ein bisschen gefährlicher. Er sagt: "Die Schlange hat was drauf."

Dabei besteht das Rohgift aus unheimlich vielen verschiedenen Komponenten. Das Unternehmen Nordmark arbeitet nur mit dem Molekül Fibrinogenase, auch genannt Ancrod. Der Wirkstoff war schon einmal registriert, auch in Deutschland, vor etwa 25 Jahren. Eingesetzt wurde er vor allem gegen Durchblutungsstörungen und Erfrierungserscheinungen von Skifahrern in Österreich.

Der Entwickler hat Schwierigkeiten, genügend Freiweillige für einen Test zu finden

Irgendwann verschwand Ancrod ganz vom Markt. Über Umwege kam es schließlich dazu, dass Nordmark die Schlangenfarm aufbaute und die Rechte an Ancrod erwarb. Das Enzym sei zu komplex, um es im Labor nachzubauen, daher brauche es die Schlangen als natürliche Produzenten, sagt der Geschäftsführer. Er hat bereits acht Krankheitsbilder identifiziert, bei denen es theoretisch zum Einsatz kommen könnte.

Den plötzlichen Hörsturz halten sie bei Nordmark für ein besonders vielversprechendes Anwendungsfeld. Dahinter stehen offenbar arterielle Gerinnsel, welche die Blutversorgung im Ohr behindern. Das Unternehmen glaubt, dass Ancrod stark in die Gerinnung eingreifen könnte, zumindest bei Meerschweinchen funktioniert das schon ganz gut. In Versuchen regenerierte Ancrod das Hörvermögen von Tieren mit fast komplettem Hörverlust innerhalb von zwei Stunden.

Das Medikament befindet sich zurzeit in einer klinischen Phase-2-Studie, in der es an Menschen getestet wird. 50 Patienten müssen mindestens teilnehmen. Doch die Rekrutierung läuft schleppend. Wenn es bei der derzeitigen Geschwindigkeit bleibt, muss Nordmark noch die nächsten 30 Jahre nach Probanden suchen. Finanziell ist das kaum zu stemmen. So gesehen könnte das Projekt am Ende nicht am mangelnden Willen der Pharmaindustrie scheitern. Sondern an Patienten, die das Gute im Gift nicht erkennen.

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